„Volkswagen steht am Abgrund“ – Strafzahlung bringt noch keinen Rechtsfrieden

Kann es noch schlimmer kommen? „Aber ja“, sagt ein mit dem Thema vertrauter Manager aus dem Volkswagen-Konzern. „Hier ahnt man inzwischen, dass die Einigung auf eine Strafzahlung von 4,3 Milliarden Dollar noch lange nicht das Ende ist und Volkswagen sich mit Geld wird keinen Rechtsfrieden erkaufen können.“

Justiz und Medien generieren tagesaktuell in transatlantischer Verbundenheit zwischen USA und Europa „Braking News“zum Volkswagen-Diesel-Skandal am laufenden Band. Dass der in Florida festgenommene VW-Manager Oliver Schmidt nicht gegen eine hohe Kaution freigelassen wurde (die Rede ist von einer Million Dollar, die Schmidts Anwälte angeboten haben sollen), hat in Wolfsburg mehr noch als seine Verhaftung zu einer regelrechten Schockstarre geführt. Man habe fest mit seiner Entlassung letzten Donnerstag gerechnet, heißt es in der Konzernzentrale.

„Hohes Maß an Fluchtgefahr“

Während in den USA mancher eines schweren Verbrechens Beschuldigter oft schon gegen wenige zehntausend Dollar aus der U-Haft auf freien Fuß entlassen wird, sieht die Justiz im Falle des VW-Managers „ein extrem hohes Maß an Fluchtgefahr“, weil Schmidt 169 Jahre Haft drohen. Diese Zahl ist keineswegs die Erfindung der Medien, sondern die offizielle Aussage eines Justizsprechers. „Faktisch sieht er sich mit lebenslangem Gefängnis konfrontiert, der Fluchtanreiz liegt auf der Hand“, sagte der Sprecher.

Die Justiz wolle nicht das Risiko eingehen, dass sich Schmidt nach Deutschland absetzt, wo er für die Strafverfolgung in den USA unerreichbar wäre. Die Bundesrepublik liefert Deutsche nämlich nicht aus. Das bedeutet allerdings, dass von den Beschuldigten bis zu einem Urteil keiner mehr ins Ausland reisen kann, ohne Gefahr zu laufen verhaftet zu werden. Ein Urlaub in Italien könnte ebenso im Gefängnis enden wie auf Mallorca. Wenn die US-Justiz einen internationalen Haftbefehl ausstellen würde, ein Beschuldigter nach einem Rechtsabkommen mit den USA in Spanien verhaftet werden müsste, dann würde die spanische Justiz ihn ausliefern. „Es ist zu erwarten, dass es nicht bei den sechs Angeklagten bleibt. Die Ermittlungen sind ja noch nicht abgeschlossen.“




Noch sind nicht alle E-mails ausgewertet

Der Konzern ist trotz Einigung mit dem Justizministerium wie gelähmt. „Hier wird nicht mehr über die Arbeit geredet, sondern nur noch darüber, was wohl als nächstes passieren wird.“ Dass der Konzern-Vorstand nicht nach Detroit gereist ist, „hat ganz offensichtlich Gründe“. Zwar werden bislang neben dem Verhafteten Schmidt nur noch Ex-Markenvorstand Heinz-Jakob Neusser, Richard Dorenkamp, Jens Hadler, Bernd Gottweis und Jürgen Peter in Michigan angeklagt, aber schon morgen können weitere Führungskräfte auf der Wanted-Liste der US-Strafverfolger stehen. „Wir werden die nächsten Jahre keinen Tatverdächtigen mehr auf einer US-Automesse sehen“, heißt es im VW-Marketing.

Noch sind längst nicht alle E-mails ausgewertet, „da können noch Überraschungen hochpoppen“, mutmaßt ein Manager. „Ausgangspunkt für diese Entwicklung, quasi der Ur-Knall des Betrugs war das extreme Spardiktat des Finanzressorts“, vermutet unser Gesprächspartner. „Die Ingenieure hätte klarstellen müssen, dass pro Fahrzeug mehr in die Abgasreinigung investiert werden muss. Das Klima der Angst, ein hohes Maß an Arroganz und gleichzeitig Unterwürfigkeit einzelner hat dann zu dem Versuch geführt, die Grenzwerte mit Betrugssoftware einzuhalten.“

Klageschriften sind noch keine rechtskräftigen Urteile

„Was bei VW lange nicht begriffen wurde: dass das Leugnen, Vertuschen und Hinhalten gegenüber den US-Behörden schlimmer bewertet wird als der Betrug selbst, weiß ein mit US-Verfahren vertrauter Rechtsanwalt. „Die Salamitaktik bei der Aufklärung war verhängnisvoll. Dass Matthias Müller letztes Jahr in Detroit noch von einem technischen Problem gesprochen und den glasklaren Betrug geleugnet hat, musste VW auf die Füße fallen“, sagt der Stuttgarter Wirtschaftsanwalt. „Wenn jetzt noch herauskommt und bewiesen würde, dass in dem Meeting am Schadenstisch im Juli 2015 Martin Winterkorn anwesend war, fällt die ganze Verteidigungslinie Winterkorns in sich zusammen. Dann kommt es zum Domino-Effekt, der auch den damaligen Finanzvorstand und heutigen Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch betreffen könnte, der die scharfen Kostenrestriktionen für die US-Fahrzeuge zu verantworten hatte.“

Allerdings sind die Klageschriften der US-Ermittler noch keine rechtskräftigen Urteile. „Kronzeugen neigen oft zur Übertreibung, um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen oder um sich reinzuwaschen“, sagt der Stuttgarter Anwalt. Was die US-Ermittler zusammengetragen und in eine Klageschrift gegen die fünf Manager gegossen haben, ist an Dramatik nicht zu übertreffen. Leonardo di Caprio, der sich offenbar die Filmrechte für den VW-Krimi gesichert haben soll, braucht keinen Drehbuchschreiber mehr. Dezidiert haben die Ermittler aufgelistet, logisch verknüpft und bewertet, was nun mit einer Höchststrafe von 169 Jahren Gefängnis bestraft werden könnte. „Verschwörung zum Betrug an den Vereinigten Staaten von Amerika wird von den US-Behörden als Kriegserklärung verstanden. Die schlagen nun erbarmungslos zurück“, kommentiert der mit den US-Verhältnissen vertraute Anwalt.

Audi soll bei der Harnstoffeinspritzung gemogelt haben

In der 34-seitigen neuesten (hier downloaden)  Anklageschrift vom 11. Januar dieses Jahres steht auf Seite 17 beispielsweise, dass Audi-Ingenieure ein System eingebaut hätten, das mit variabler Harnstoff-Einspritzung gearbeitet habe. Auf dem Prüfstand sei mehr Harnstoff eingespritzt worden als auf der Straße, weil der Harnstofftank zwei Service-Intervalle überbrücken sollte. So habe man vermieden, einen großen Ad-Blue-Tank einbauen zu müssen, was Kofferraum gekostet hätte. Dies hätte wiederum die Attraktivität auf dem Markt eingeschränkt und Kunden abgeschreckt, heißt es in der Anklageschrift.

Die zurückgelegten rund 20 Milliarden Euro für Strafzahlungen reichen bereits jetzt nicht aus. Sollten Anlegerklagen noch dazukommen, europäische VW-Kunden doch noch Schadenersatz zugesprochen bekommen, dann wäre Volkswagen finanziell am Ende. „Nicht auszuschließen ist, dass der Konzern am Ende des Tages in seine Bestandteile zerlegt wird oder werden muss“, meint ein Autoanalyst. „Volkswagen steht zweifellos am Abgrund und darf keinen falschen Schritt mehr machen. Matthias Müller hat wirklich den schwersten Job in der gesamten Autoindustrie.“




Dass sich Volkswagen in den USA für schuldig erklärt hat, kann in den Aktionärsklagen und in den anderen Verfahren schlecht widerrufen werden. Mit dem Schuldbekenntnis dürften die Ermittlungen der Braunschweiger Staatsanwaltschaft wegen Marktmanipulation nun aus einer anderen Perspektive gesehen werden. „Pötsch wird als Aufsichtsratschef nicht zu halten sein“, sagt der Stuttgarter Wirtschaftsanwalt.

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