Wie der VW Golf den kriselnden Volkswagenkonzern vor 50 Jahren auch mit Hilfe eines pfiffigen Marketings wieder in die Erfolgspur lenkte.
Von Harald Kaiser
Man könnte sagen: Er ist ein Biedermann. Der Begriff klingt nach Farblosigkeit und Langweile. Da ist was dran. Oder diese Einschätzung: Er ähnelt von der Ausstrahlung her einem Schwarzbrot. Ebenfalls nicht ganz abwegig. Man könnte ihn aber auch so beschreiben: Er ist ein zeitloses Geschöpf, das nicht auffällt und sich unter anderem deswegen massenhaft verbreitet hat. Das trifft‘s am besten.
Gemeint ist der VW Golf, der im März 1974 erstmals vom Band lief und der den Konzern nach zwei katastrophalen Jahren vor dem Ruin rettete. 1973 erzielte Volkswagen nach verwöhnten Jahrzehnten nur noch kärgliche 82 Millionen Mark Gewinn. 1974 schlug die Bilanz schließlich mit 807 Millionen Mark Verlust derart hart im Ergebniskeller auf, dass die Presse bereits über eine mögliche Pleite spekulierte. Dass es bereits ein Jahr nach den blutroten Zahlen und dem Blick in den Abgrund anders kam, lag vor allem an jenem neuen Automobil.
Eigentlich ist über den Golf, der den legendären VW Käfer beerbte und nach ihm ebenfalls zum wichtigsten Umsatzbringer des Konzerns werden sollte, in den nun fünf Jahrzehnten seines Daseins alles gesagt und es wurde auch alles getestet: Welcher Preis (7995 DM), wie stark (50 PS), wie schnell (145 km/h), welche Straßenlage (prima), wie sparsam (neun Liter), wie geräumig (fünf Personen), wie wirtschaftlich (1a Preis/Leistung), wie fortschrittlich (sehr), wie sicher (damals erstklassig), welcher Kundendienst (super) – und wie er durch die Summe dieser Eigenschaften die Konkurrenz auf Jahre hinaus meilenweit abhängen konnte. Auch seine Zukunft ist klar: elektrisch.
Die massive Werbung für den Golf traf ins Herz der Kunden
Rätseln dürfte hingegen die Mehrzahl der Besitzer bis heute, wie das Kunststück gelingen konnte, einem schnöden Fortbewegungsmittel weltweit diesen Evergreen-immer-gut-angezogen-Kultstatus zu verpassen. Sicher, einerseits stieg der Wagen wegen seiner modernen Technik, der Zuverlässigkeit, der Anspruchslosigkeit und dem Platzangebot zur Ikone des Kompaktwagensegments auf wie Nivea für Handcremes oder Tempo für Papiertaschentücher stehen.
Erreicht wurde dieser Nimbus aber nicht zuletzt auch durch ein massives Werbedauerfeuer auf allen Medienkanälen, das über die Jahre viele hundert Millionen Mark gekostet haben dürfte. Die Abbildungen in den Inseraten wurden sorgsam inszeniert. Nicht irgendein Foto des Golf und eine mehr oder weniger stümperhafte oder marktschreierische Textzeile weckten die Aufmerksam, sondern der Hauptdarsteller war eingebettet in eine kleine Geschichte, die in Sekundenschnelle erfasst werden konnte, garniert mit pfiffigen, frechen, selbstbewussten oder auch provokanten Schlagzeilen.
Wobei weniger die Motorstärke oder die Höchstgeschwindigkeit hervorgehoben wurden. Wichtiger war der auf den Bauch zielende und ungeschriebene Subtext: „Einer für alle“. So wurde die Millionen Menschen umfassende Zielgruppe 1974 zur Markteinführung mit der treffenden Zeile „Ein Auto für breite Kreise“ angesprochen. Dazu ein Bild, das den Golf von vorne und halb von oben zeigte, aus dessen vier geöffneten Türen jeweils ein Mensch in die Kamera schaute.
Gute Slogans sorgten für Aufmerksamkeit: „Der neue Volkssport: Golf“
Oder im gleichen Jahr die Variante mit dem flapsigen Spruch: „Der neue Volkssport: Golf.“ 1975, als eine Sparwelle durchs Land schwappte, hieß es in großformatigen Farbinseraten schmissig: „Fahren Sie Golf. Benzin ist teuer“. Und für die knausrige Dieselversion texteten die Werbestrategen gekonnt: „Das Sechs-Liter-Auto.“
Mitte 1976, als die scharfe GTI-Version mit 110 PS und 184 km/h Spitze antrat und zum Autobahnschreck werden sollte, hieß es auf Doppelseiten: „Auto, Motor und Spurt“ – in Anlehnung an ein Automagazin fast gleichen namens. Am griffigen Sportlenkrad dieses heißen Ofens hat so mancher Jungspund mit großer Lust die stärkeren und behäbigeren Spießer-Limousinen vom Schlage eines Ford Granada oder Opel Rekord verblasen.
Diese gekonnten Kompositionen erzeugten nicht nur Neugierde und stoppten das instinktive Bedürfnis rasch weiter zu blättern, fast immer führten sie auch zum Schmunzeln und regten zum genauen Betrachten an. So hämmerten sich die kühlen technischen und konstruktiven Qualitäten des Wagens unmerklich ins Unterbewusstsein potentieller Neukunden.
Das alleine reichte aber zumeist nicht für eine Unterschrift auf dem Kaufvertrag. Was fehlte, war ein spezielles Wohlgefühl. Erst die Probefahrt in dem optisch unaufregenden Wagen ließ den Fahrer kaufentscheidend spüren: Seine Formgebung ließ damals wie heute keine soziale Einstufung der Person am Lenkrad zu. Die blecherne Klassenlosigkeit wiederholte sich wie einst beim Käfer und wurde zu einer Art Magnet.
Gleichgültig, ob ein reicher Knopf im hochgerüsteten, aber beinahe anonymen Sechszylinder-Typ R32 mit 241 PS Gas gibt oder ob ein armer Schlucker im angerosteten Dritte-Hand-Golf mit 150.000 Kilometer auf dem Blechbuckel – das Äußere des Wolfsburger Jedermanns verrät seit 50 Jahren nichts über die Dicke des Portemonnaies.
Bis Ende 2023 haben sich 37 Millionen Kunden für den Golf entschieden
Diese Schlichtheit, die gewollte auffällige Unauffälligkeit, gilt in Fachkreisen noch immer als der eigentliche Schlüssel des Welterfolgs. Bis Ende 2023 haben sich mehr als 35 Millionen Kunden weltweit für ihn entschieden. Ein ehemaliger VW-Chefdesigner beschrieb das strenge Formgebungsrezept so: „Ein neuer Golf darf optisch nie eine Revolution sein. Dadurch würde das Vorgängermodell alt aussehen. Das würde den Besitzern nicht gefallen. Man muss sehr behutsam vorgehen.“
Was nicht ausschließt, dass in der großen und nahezu gleich eingekleideten Golf-Familie auf potente Brüder verzichtet werden muss. Das nach wie vor gültige Design-Credo, dass weniger mehr ist, signalisieren an den heißen Varianten neben breiteren Reifen lediglich kleine Typen-Kürzel wie GTI, VR6 und R32 im Heck oder am Kühlergrill. Mit mächtig Dampf unter der Fronthaube können diese optisch vielfach unterschätzten Golf-Ableger bis rauf auf fast 250 Sachen bei Fahrern wesentlich dickerer Schlitten im Handumdrehen Verdruss erzeugen.
Auch bei den Neuwagen-Zulassungen zog der Konzern-Rettungswagen davon. Bereits 1975 übernahm der Bestseller die Führung in der amtlichen Statistik: 166.869 Golf bekamen damals ein neues Nummernschild, etwa 47.000 mehr als der zweitplatzierte Konzernbruder Passat. Ende 1983 wurde die Marke von knapp fünf Millionen hergestellten Gölfen (genau 4,9 Mio.) erreicht.
Volkswagen suchte damals mit Hilfe einer Kundenstudie* nach den Gründen. Ergebnis: 40,1 Prozent der Befragten gaben Markenloyalität als Kaufgrund an, für 35,7 Prozent war der geringe Wertverlust, die Wirtschaftlichkeit sowie der niedrige Spritverbrauch entscheidend und 30,2 Prozent schätzten die Robustheit des Wagens.
Bei Volkswagen stehen erneut große Umwälzungen an
Des Weiteren förderten Image-Untersuchungen* seinerzeit die Erkenntnisse zutage, dass sich der typische Golf-Käufer für selbstsicher, aktiv, kultiviert, vielseitig, pragmatisch und fortschrittlich hält. 73 Prozent sind männlich, 41 Prozent gaben als Bildungsabschluss Volksschule an, elf Prozent Abitur und 43 Prozent sind Angestellte.
In die Jahre gekommen blätterte schließlich der Lack des Erfolges auch am Golf trotz ständiger Verbesserungen hier und da ab. Vor allem, weil die Konkurrenten in der Kompaktklasse, die durch ihn überhaupt erst gegründet worden war, immer zahlreicher wurden. 2022 notierten die Wolfsburger Statistiker nur noch 84.282 Neuzulassungen des Wagens in der achten Generation.
Das reichte zwar für die Spitzenposition, doch genügt das nicht den Ansprüchen Volkswagens. Und 2023 hielt die sinkende Tendenz an: Lediglich 72.433 Stück des Verkaufsflaggschiffs wurden bis einschließlich November an Kunden ausgeliefert. Geschichte wiederholt sich also doch: Bei VW stehen erneut ähnlich große Veränderungen an wie 1974, als der in der Herstellung viel zu teure VW Käfer den Konzern fast in den Abgrund gerissen hätte. Es sind allerdings keine roten Zahlen, die in schwarze verwandelt werden müssen. Sondern es geht um den Ausbau des Elektroangebots und um die Antwort auf die strategische Frage, inwieweit das Engagement in Richtung synthetischer Treibstoffe ausgeweitet werden soll.
*stern-Bibliothek – 20 Jahre Golf, Marketingkommunikation für ein Erfolgsprodukt, S. 49/66-68, Dezember 1994
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