Volkswagen wäre beinahe britisch geworden

75 Jahre ist es her, dass das Volkswagenwerk 1947 fast zur Kriegsbeute der Briten geworden wäre. Die weithin unbekannte Geschichte einer grandiosen Fehleinschätzung.

 

Von Harald Kaiser

 

Der Vorgang wurde wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Die Untersuchung der Briten, um die es ging, war industrie- und weltpolitisch höchst brisant. Keine der anderen drei Siegermächte des geschlagenen Deutschlands, die USA, die UdSSR und Frankreich, durfte kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs Wind von den Absichten bekommen. Sonst wären womöglich Begehrlichkeiten geweckt worden.

Die Briten, in deren Besatzungsgebiet auch die Region Wolfsburg lag, haben unter totaler Abschirmung in aufwändigen Tests prüfen lassen, welche Erfolgsaussichten im Volkswagen Käfer stecken. Denn es gab die Überlegung, ihn selber zu bauen. Die Geheimuntersuchung kam 1946 zu einem eindeutigen Urteil: Man könne nicht empfehlen, „dieses Fahrzeug als Beispiel für erstklassige, moderne Konstruktions-verfahren zu betrachten, die von der britischen Industrie kopiert werden sollten“. Und ferner: „Angesichts des allgemeinen Erscheinungsbilds sind wir der Auffassung, dass die Konstruktion keine besondere Brillanz aufweist.“

Die Federführung dieser Analyse lag in den Händen einer damals weitgehend im Verborgenen arbeitenden Organisation, des British Intelligence Objektives Sub-Committee (BIOS), das insbesondere die Güte und Verwertbarkeit deutscher Technik untersuchte. Sir William Rootes, damals ein Auto-Großindustrieller Englands mit viel Einfluss und dessen Firmen auch an der Beurteilung des Käfer beteiligt waren, fand drastische Worte gegen das Auto der Krauts: „Zu hässlich und zu laut. Ein Automodell wie dieses wird für zwei oder drei Jahre populär bleiben, wenn überhaupt.“

Volkswagen statt Reparationszahlungen?

Einer breiten Öffentlichkeit Deutschlands dürfte bis heute unbekannt sein, dass die Regierung des Vereinigten Königreichs seinerzeit das Recht besaß und trotz dieses Untersuchungsberichts ursprünglich auch den Beschluss gefasst hatte, das Volkswagenwerk als Kriegsbeute mit allen Patenten, Maschinen und Werkzeugen nach Großbritannien zu verfrachten und zum eigenen Nutzen zu verwenden. Etwa als Vorleistung auf spätere Reparationszahlungen der Deutschen.

1947, vor nunmehr 75 Jahren, wurde der Marschbefehl für das VW-Werk schließlich  zurückgezogen. Doch diese Entscheidung blieb wie die ursprüngliche Demontage-absicht jahrzehntelang geheim. Das änderte sich erst 1996, als der BIOS-Bericht Nr. 998 in England als Buch erschien. Drei Jahre später brachte es der Heel-Verlag, Königswinter, unter dem Titel „Die Akte: VW Käfer“ auch auf deutsch heraus. Darin wird detailliert die Vorgehensweise der britischen Experten geschildert. Diese hatten von September 1943 bis Februar 1946 zwei Varianten des Käfers bis auf die letzte Schraube zerlegt, jedes Einzelteil penibel geprüft und getestet. Es handelte sich um eine Limousine (Baujahr 1946) und einen auf dem Afrika-Feldzug der Deutschen von den englischen Truppen erbeuteten technisch baugleichen Wehrmachtskübelwagen (Baujahr 1941).

Weil die BIOS-Leute selbst keinerlei Kompetenz besaßen, ein fachmännisches Urteil über die Konstruktion des feindlich-deutschen Autos abzugeben, wurde der einheimische Verband der Autohersteller und Händler (Society of Motor Manufactures and Traders) mit der Expertise beauftragt. Beteiligt waren

  • die A.C. Cars Ltd. (für allgemeine Beurteilung),
  • die britische Ford-Tochter/Dagenham (für Gesamtkonstruktion),
  • die Humber Ltd./Roots Group (für Konstruktion und Produktion),
  • die Singer Motors Ltd./Roots Group (für Fahrtests)
  • sowie die Solex Ltd. (für Benzinzufuhr/Vergaser).

Einerseits sollten Antworten auf zwei zentrale Fragen gefunden werden: Kann die britische Autoindustrie von den Deutschen etwas lernen? Und macht es womöglich Sinn, das Werk technisch auszuweiden und die Gerätschaften auf das Inselkönigreich zu bringen? Andererseits mussten die Machthaber auch in Betracht ziehen, dass die britische Autoindustrie klammheimlich Beifall klatschen würde, wenn im Deckmantel eines offiziellen Regierungsbeschlusses ein möglicher Konkurrent per Demontage entweder ausgeschaltet oder in britischen Besitz übergehen würde.

Lange Zeit bestand Demontage-Gefahr für die Produktionsanlagen

Würde letzteres eintreten wäre VW kein ausländischer Konkurrent mehr, der in Friedenszeiten Autos nach England exportieren und heimischen Herstellern Marktanteile wegnehmen könnte, sondern ein Inlandswettbewerber, mit dem sich anders umgehen ließe. Oder, eine andere Variante, der Käfer landet im Modellprogramm eines englischen Herstellers.

Wäre das so gekommen, dann hätte es den Volkswagen-Weltkonzern heutiger Prägung genau so wenig gegeben wie den warmen Geldregen von unzähligen Milliarden Mark für Staat wie Beschäftigte durch den internationalen Erfolg dieses Autos. Zu verdanken waren die Segnungen vor allem den weit- und umsichtigen Briten und Heinrich Nordhoff, dem Generaldirektor von Januar 1948 bis April 1968, der das Auto ständig verbessern und in alle Welt exportieren ließ. „Stadt und Betrieb sind eins, und der Pass in Nordhoffs Territorium ist ein blauer Werksausweis“, jubelte der SPIEGEL im August 1955. Auf diesen Ausweis gab jeder Möbelhändler unbesehen 1000 oder 2000 Mark Kredit

Zwar bestand unmittelbar vor Nordhoffs Antritt die Demontagegefahr tatsächlich noch einige Zeit, doch eher theoretisch. Denn die Briten suchten damals angesichts ihrer im Kriegseinsatz stark ramponierten Militärfahrzeuge nach Ersatz. Da lag es nahe, die wenngleich durch Bombenschäden nur eingeschränkten Produktions-möglichkeiten des VW-Werkes zu nutzen und auf diese Weise den eigenen hohen Bedarf an Fahrzeugen zu decken.

So wurde das Management des VW-Werkes von der britischen Militärregierung mit Blick auf die Wettbewerbslage wie auch auf akute eigene Bedürfnisse bereits 1945 mit dem Bau von 20.000 Limousinen beauftragt. Zudem hatte die Control Commission for Germany/Britische Zone mit Sitz in Bad Oeyenhausen frühzeitig klar gemacht, dass sie Verantwortung für Deutschland trage und sich nicht zum Handlanger der heimischen Industrie degradieren lasse.

Ähnlicher Ansicht war das Board of Control, eine Art britischer Aufsichtsrat des Volkswagenwerkes, das inzwischen in Wolfsburg Motor Works umbenannt worden war. Man hielt eine Demontage des Betriebes für unverantwortlich gegenüber den Einwohnern Wolfsburgs, weil alternative Beschäftigungsmöglichkeiten fehlten. Stattdessen votierten die entscheidenden britischen Stellen wie das Außenmini-sterium und der Schatzminister für eine Steigerung der Produktion, um den Volkswagen exportieren zu können. Dies auch, weil dem Schatzminister sehr an zusätzlichen Einnahmen gelegen war, um den Haushalt von Besatzungskosten zu entlasten. Obendrein versprach der Export des Volkswagens Devisen.

„Die erfolgreichste Autofirma, die jemals von den Briten gegründet wurde“

Im September 1946 schließlich wurde der ursprünglich ergangene Demontagebefehl von der Militärregierung für zunächst vier Jahre ausgesetzt. Und am 23. Juli 1947 verkündete Major Ivan Hirst,Senior Resident Officer der Militärregierung und Mitglied der Kontrollkommission des VW-Werkes, in einer Werksleitersitzung, es sei „als fast sicher anzunehmen, dass ein Abtransport des Werkes nicht in Frage kommt“. Somit blieb VW in deutscher Hand.

Die BIOS-Einschätzung jedoch, dass mit dem „German People’s Car“ weder militärisch noch zivil etwas anzufangen sei, bleibt eine der grandiosesten Fehleinschätzungen der Wirtschaftsgeschichte. Ohne Zweifel mit rein egoistischen Absichten mokierte sich der (Industrie-)Bericht über den angeblich schwachen Motor, er hielt den Fahrzeuglärm für unerträglich und fand obendrein, dass das Auto ausgesprochen hässlich sei und eine zu komplizierte Heizung besäße.

Angesichts der fulminanten Erfolgsgeschichte des VW-Käfer formulierte Jahre später der Vorstandschef Carl Hahn ironisch, dass das Volkswagenwerk, das nach dem Krieg dankenswerterweise von den Engländern zu neuem Leben erweckt worden ist, „die erfolgreichste Autofirma ist, die jemals von den Briten gegründet wurde“. Mit einer Metapher aus dem Fußball könnte man auch sagen, die Briten haben mit der BIOS-Einschätzung gleich eine ganze Elfmeterserie im legendären Londoner Wembleystadion auf ein leeres deutsches Tor versemmelt.

Groß geworden im Zonenrandgebiet und schließlich aufgestiegen zum zeitweisen Motor des deutschen Wirtschaftswunders hat das Auto aus der deutschen Provinz nicht nur Menschen in Fahrt gebracht. Wer den Wagen fuhr, bog auch ganz persönlich in die Straße steigenden Wohlstands ein. Auf dem Erfolgsrezept des Volkswagens standen  Eigenschaften, die in manchen Punkten auch auf den Fahrer zutrafen: Zuverlässigkeit, Anspruchslosigkeit, Robustheit und Wirtschaftlichkeit. Wie nur wenige Autos nach ihm wurde der VW-Käfer zum Liebling

  • von jungen, dynamischen Unternehmern. Er brachte sie verlässlich von Geschäftstermin zu Geschäftstermin. Das war keineswegs selbstverständlich für damalige Qualitätsverhältnisse;
  • von Familienvätern. Sonntags wurde Kind und Kegel in den VW gepackt und ab ging’s ins Grüne. Nie stotterte der Motor, dafür um so mehr die Teilzahlungsraten;
  • von Polizisten. Der VW als Grüne Minna galt seinerzeit als hochmodernes Auto, das lediglich von Gangster-Limousinen größeren Kalibers abgehängt werden konnte;
  • von Junggesellen. Wann immer es zu riskant war, die Herzdame mit auf das von der Vermieterin streng überwachte möblierte Zimmer zu nehmen, bot sich der Käfer als Stätte der Begegnung an. Also ein Liebhaberauto im doppelten Sinn;
  • von Studenten. Für sie gab es kaum ein billigeres und zuverlässigeres Auto. Wer sich vom Geld eines Gelegenheitsjobs 1500 Mark auf die Seite gelegt hatte, konnte sich einen gut erhaltenen Käfer aus dritter Hand kaufen,
  • und von Selbermachern. Verbeulte Kotflügel? Ein Gang auf den Schrottplatz behob das Problem für wenig Geld. Montieren war kinderleicht.

So knatterte der bucklige Wagen am Ende in den Olymp der Autogötter, wo er längst auf ewig einen vorderen Platz einnimmt. Ein Fahrzeug, dessen entscheidender Erfolgsbaustein war, auf der Straße der Klassenlosigkeit zu fahren. Ob reicher Knopf oder armer Schlucker, der Käfer war ein Jedermannauto, das keine Rückschlüsse auf die Dicke des Geldbeutels zuließ.

Und, als wäre es der ironische Schlussakkord einer fiktiven Story zur Automobilgeschichte, sind Jahrzehnte nach Ende der Käfer-Krabbelei urbritische Marken wie Mini, Rolls Royce und Bentley inzwischen in deutschem Besitz: Mini und Rolls Royce gehören zu BMW, Bentley zählt seit 1998 zum Reich der Beinahebeute Volkswagen.

 

 

 

 

 

Kommentar hinterlassen zu "Volkswagen wäre beinahe britisch geworden"

Hinterlasse einen Kommentar

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*