„Die E-Mobilität wird die Umwelt mehr belasten als die Verbrenner-Mobilität“

Gert Hildebrand

Mit 2020 geht ein in mancherlei Hinsicht katastrophales Jahr zu Ende; für 2021 ist allerdings Licht am Horizont sichtbar. Wir haben einige Auguren der Autobranche über das vergangene Jahr und die wichtigen Zukunftsthemen befragt. Heute: Gert Hildebrand. Der Stardesigner war unter anderem mit dem Design von Opel Kadett E und VW Golf III befasst, bevor er zum Mini-Chefdesigner avancierte und schließlich für das globale Design und den Markenauftritt der chinesischen Marke Qoros verantwortlich wurde. Zuletzt hat er für den chinesischen EV-Hersteller Bordrin gearbeitet.

Von Jens Meiners

Was bedeutet die Corona-Krise für die Branche?

Hildebrand: „Ich befürchte, man hat wenig gelernt. Werbung und Marketing entfernen sich in Rekordzeit von den Themen, die die Kunden wirklich bewegen. Wer ein Auto kaufen will, interessiert sich nicht für Diversity-Programme und möchte vielleicht auch gar nicht so genau wissen, in welchem Ausmaß die Hersteller sich auf den Dialog mit dem Fridays-For-Future-Umfeld einlassen. Wir sind vielleicht schon Zeugen einer De-Industrialisierung, auf jeden Fall aber einer De-Ästhetitisierung: Das aktuelle Design kann gar nicht genug unkontrollierte Ecken und Kanten haben, die Bauhaus-Gestaltungsprämisse „form follows function“ scheint komplett aus der Mode geraten zu sein. Große Kühlergrills standen übrigens früher einmal für Potenz in Form von Acht- oder Zwölfzylindern. Heute steckt ein aufgeladener Vierzylinder hinter dem Karpfenmaul – oder gleich eine Spule mit Kupferdraht.“

Wird sich die E-Mobilität durchsetzen – und wenn ja, wann?

Hildebrand: „Die E-Mobilität ist ja keine neue Erfindung, sie ist über 100 Jahre alt. Doch sie wird die Umwelt durch Ressourcenverschwendung und Ladeinfrastruktur-Themen noch mehr belasten als die Verbrenner-Mobilität. Mit der Abkehr von der technologisch praktikableren und erschwinglichen Verbrenner-Lösung wird eine dramatische Nutzerverschiebung einhergehen: Es könnte sich von der Massenmobilisierung, der freien Bewegung für fast alle, zu einer selektiven Elite-Motorisierung entwickeln. In einem Land mit den höchsten Strompreisen der Welt ist die E-Mobilität meines Erachtens ein Widerspruch. Wenn der Staat die entgangenen 50 Milliarden Euro Mineralölsteuer irgendwann auf die E-Autos umlegt, dann ist das Thema für die meisten Menschen erledigt.“

Zum autonomen Fahren: Wie lange dürfen wir noch selbst lenken?

Hildebrand: „Lassen Sie mich darauf etwas augenzwinkernd antworten: Unsere Brauerei in Lörrach hatte noch lange ein Pferdegespann, und wenn der Kutscher betrunken war oder geschlafen hat, haben die Gäule abends ihren Stall allein gefunden… die Autonomie hat es also schon einmal gegeben. Auf die aktuelle Situation bezogen sehe ich es so: Der Traum vom autonomen Fahren wird spätestens dann zum Alptraum, wenn die Politik sich den gesetzgeberischen und ethisch-moralischen Fragen im Massenverkehr stellen muss. Diese Verantwortungsverlagerung von unten nach oben, vom Nutzer zum System, wird sich kein Politiker umhängen wollen. Und so befürchte ich, dass wir die Endstation dieses Weges ebenfalls schon kennen: Bus, Tram und Eisenbahn.“

Welches Potential hat Shared Mobility?

Hildebrand: „Ich habe in China an einigen dieser Projekte gearbeitet. Und es kam immer dabei heraus, dass der Verbraucher sein eigenes Auto oder sein individuell genutztes Taxi, Uber oder Didi verlangt, und zwar schon vor Corona-Zeiten. Die „Shared Mobility“ hat grundsätzlich das Problem der Verwahrlosung, der mangelnden Hygiene durch den Vornutzer. Und daran wird sich erfahrungsgemäß nichts ändern, weil der Mensch eben so ist, wie er ist. Nicht einmal bei Fahrrädern, Rollern und Mopeds funktioniert der „Shared“-Ansatz. Früher hieß es: Die Pfeife, die Freundin und das Auto teilt man nicht. Mir scheint, als hätte sich daran bis heute wenig geändert.“

Welches Auto hat Sie dieses Jahr beeindruckt?

Hildebrand: „Das beeindruckendste Auto 2020 war für mich mein VW Käfer 1303 Cabrio, Baujahr 1979, immer in Familienbesitz. Er startete im April nach dem Winterschlaf und mitten im ersten Lockdown ohne Murren, und er zauberte mir und den Betrachtern ein Lächeln ins Gesicht. Das schafft kein aktuelles Modell mehr. Es ist interessant, dass dieses 85 Jahre alte Konzept noch heute funktioniert. Man könnte das „nachhaltig“ nennen.

Freuen Sie sich auf die IAA?

Hildebrand: „Die Zeit der unbeschwerten Automessen ist vorbei, der politische Druck auf Hersteller und Verbraucher vermiest die Stimmung. Nach Frankfurt 2019, als chinesische Besucher über Anti-Auto-Demonstranten klettern mussten, kann man sich kaum vorstellen, dass es noch viele Gäste aus anderen Kontinenten geben wird. Wenn Vereine und Verbände wie VDA und ADAC es nicht schaffen, die Sinnlichkeit des Automobils wieder aus dem Hut zu zaubern, sehe ich schwarz. Ich bezweifle im Moment, dass München die IAA 2021 überhaupt hinbekommt. Vielleicht treffen sich die Fans ja statt dessen bei der „bauma 2022“: Bagger, Kräne und Unimogs!“ (Auto-Medienportal.net)

 

 

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