Als der Elchtest Mercedes-Benz aus der Bahn warf

Vor 20 Jahren kippte die Mercedes A-Klasse beim Elchtest um und löste eine hitzige Sicherheitsdiskussion aus. Bei der Blamage ging auch der Mythos der Unfehlbarkeit zu Schrott. Harald Kaiser, damals beim stern für Autothemen verantwortlich, hat die Ereignisse in lebhafter Erinnerung.

Der Anruf kam gegen zwei Uhr nachts aus Stuttgart. Es war Sonntag, der 26. Oktober 1997. Ich saß zuhause in Hamburg am Computer und fragte mich, wer wohl zu so später Stunde etwas von mir will? Ich arbeitete an einer wichtigen Story, die anderntags zum Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe unbedingt ins Blatt musste. Es war eine Hintergrundgeschichte zur Elchtest-Affäre, zu der die Kollegen Peter Weyer, Peter Thomsen und Jörg Schmitt wesentliche Recherche-Ergebnisse beigesteuert hatten. Der Anrufer war ein leitender Mitarbeiter der Mercedes-Presseabteilung. Er wollte die erwartbar unfreundliche große Story verhindern, die die Sorgenfalten in seiner Stirn ohne Zweifel noch vertiefen würde. Reichte es doch bereits, dass fünf Tage zuvor, am 21. Oktober 1997, die Mercedes A-Klasse beim Elchtest in Schweden umgekippt war, wodurch ein Fahrsicherheitsgau ungeahnten Ausmaßes ausgelöst worden war, der dem Mann eine tagelang anhaltende und nervenaufreibende Krisen-PR beschert hatte. Und nun stößt auch noch der stern ins selbe Horn. Diese Elchtest-Blamage jährt sich im Oktober zum 20. Mal. Mit Mercedes traf es ausgerechnet jene Automarke, die bis dahin wie keine zweite als internationale Ikone der Unfallsicherheit galt.

Beim Elchtest handelt es sich um eine fahrdynamische Prüfung bei etwa Tempo 60, bei der es darum geht, plötzlich auftauchenden Hindernissen (Elche) sicher auszuweichen. Autos, die bei dem Manöver von der Piste purzeln, deren Ruf ist zumindest vorübergehend ramponiert, wenn nicht dauerhaft ruiniert. Ersteres war bei der A-Klasse der Fall. Durchgeführt wurde der Test von der schwedischen Technik-Zeitschrift „Teknikens Värld„, für die das seit Jahren Routine bei Autotests war. Nach der Veröffentlichung des Ergebnisses gingen die Wogen in Europa hoch. Schlagzeilen, die gleichermaßen das Entsetzen ausdrückten, dass dies ausgerechnet der angeblich so auf Sicherheit ausgerichteten Marke Mercedes passierte, wie auch solche voller Hohn und Spott gingen tagelang durch die Medien. Bei manchen Beiträgen schien es so, als würden sich die Texter daran erfreuen, dass sie endlich mal Mercedes in die Pfanne hauen konnten.

Auch wir beim stern hatten uns daran gemacht, zusammen mit der Kölner Auto Zeitung einen Elchtest durchzuführen. Und zwar auf dem Flugplatz Dahlemer-Binz in der Eifel. Ergebnis: Die A-Klasse stieg bei dem Ausweichtest hoch, balancierte gefährlich auf zwei Rädern, drohte zu kippen, plumpste aber dank des versierten Testfahrers wieder auf alle viere.

An dieser Reportage mit umfangreichen Hintergrundinformationen arbeitete ich in besagter Nacht, als mein Telefon klingelte. Nach einer kurzen Begrüßung und Entschuldigung wegen der späten Stunde kam der Mercedes-Angestellte rasch zur Sache: „Herr Kaiser, ich weiß, dass Sie gerade eine Elchtest-Story schreiben. Wenn die gedruckt wird, dann verliere ich meinen Job.“ Nach einem Moment der Überraschung wertete ich den vermeintlichen Hilferuf als Psychotrick, der mich mit einem Druck auf die Tränendrüse von der Veröffentlichung der Geschichte abbringen sollte. Ich ließ mich jedoch nicht einlullen, sondern konterte: „Wissen Sie, erstens müssen wir die Geschichte selbstverständlich drucken. Das erwartet der Leser. Und zweitens: Wenn ich sie nicht schreibe, dann verliere ich meinen Job.“ Anschließend bat der Mercedes-Mitarbeiter nur noch kleinlaut darum, „die Geschichte wenigstens ohne große Sensationshascherei zu formulieren“. Als die Story in der stern-Ausgabe 45/1997 vom 30. Oktober erschienen ist, beinhaltete sie eine exklusive Botschaft: Das stern-Team hatte das Eingeständnis von Mercedes zutage gefördert, dass bei der Entwicklung des A-Klasse-Fahrwerks „für umfangreiche Grundsatzunter-suchungen mit verschiedenen Achstypen, die normalerweise bei der Konzeption eines völlig neues Automobils auf dem Programm stehen, ….. die Zeit fehlte“.

Mit diesem Zitat aus dem offiziellen Mercedes-Begleitbuch zur A-Klasse war klar, dass die Tests der in Frage kommenden Achstypen wie letztlich auch die Entscheidung für eine bestimmte Achse am Simulator erfolgt sind. Nach dem Elchtest wurde dieses Eingeständnis zum Eigentor. Und Jürgen Hubbert, damals Daimler-Vorstand für die Pkw-Sparte, sagte im stern auf die Frage, warum er die A-Klasse vor dem Elchtest als Lernfeld bezeichnet hat, dies: Weil … „es nicht ungefährlich ist, sich in ein neues Wettbewerbs-umfeld zu begeben.“ Der Hintergrund für diese Aussage war Volkswagen. Denn die Wolfsburger brachten zur A-Klasse nahezu zeitgleich die vierte Version ihres Bestsellers VW Golf raus, der schier übermächtige Konkurrent im Segment der Kompaktklasse, in die nun auch Daimler drängte. Angesichts dieser riesigen Herausforderung und der Unerfahrenheit im Massensegment wollten die Schwaben nicht nur mithalten, sondern, wenn irgendwie möglich, auch terminlich auf Augenhöhe zu den Niedersachsen sein. Dieser Zeitdruck erzeugte die Hektik bei der Entwicklung des neuen Autos, was schlussendlich dazu führte, dass der Wagen zumindest anfangs nicht die nötige Qualität hatte, um den Golf in seiner langjährigen Vormachtstellung zu gefährden.

Der Elchtest offenbarte mehrere handwerkliche Fehler in dem kompakten Automobil:

  • Zum einen war die A-Klasse eigentlich als Elektroauto mit doppeltem Boden für die Aufnahme der Akkus konstruiert, wodurch sich ein tiefer Schwerpunkt und damit eine hohe Fahrstabilität ergeben hätte. Dieser doppelte Boden blieb jedoch leer, weil der Mercedes-Vorstand aus öffentlich nicht bekannten Gründen vom geplanten Elektroauto auf einen herkömmlichen Wagen mit Verbrennungsmotor in der Front umschwenkte. Diese Entscheidung wirkte sich fatal aus: Das Fehlen der Akkus führte zwingend zu einem höheren Schwerpunkt des Autos, wodurch sich wiederum die Neigung zum Umfallen in kitzligen Fahrsituationen erhöhte. Zweitens war die werksseitige Feder-Dämpfer-Abstimmung zu hart, was das Kipprisiko bei abrupten Lenkmanövern weiter steigen ließ.
  • Und drittens stellte sich die Wahl der Serienbereifung als falsch heraus. Deren damals zu weiche Flanken begünstigten nämlich die Wahrscheinlichkeit einer seitlichen Rolle bei extremen Ausweichmanövern zusätzlich.

Sechs Wochen nach dem Desaster gab Vorstand Jürgen Hubbert einem Branchen-Newsletter gegenüber zu, dass man einen Fehler gemacht hat. Hubbert: „Wir haben nach einer Abnahmefahrt die Spezifikation für die Reifen geändert, aber danach keinen Elchtest mehr gefahren. Und so haben wir auch nicht festgestellt, dass der Reifen nun für solch eine Extremsituation zu weich geworden ist.“ Als der Manager dies sagte, wähnte sich Mercedes bereits aus den Schlagzeilen. Doch kurz vor Jahresende 1997 kam es zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen knüppeldick: Der Smart, bis heute das kleinste Modell aus dem Mercedes-Programm, war ebenfalls umgekippt. Und zwar nicht beim Elchtest, sondern bei einer Slalomfahrt im dienstlichen Auftrag der Mercedes-Entwicklungsabteilung. Ort der Peinlichkeit war der ausgediente Flugplatz im schwäbischen Dorf Malmsheim, etwa 30 Kilometer westlich von Stuttgart gelegen. Abgeriegelt vom Werksschutz wollten die Entwickler dort unbeobachtet prüfen, inwieweit der Bonsai-Benz auf den Rädern bleibt, wenn dessen Fahrwerk in einem Slalomparcour mit Tempo 60 bis 80 Standfestigkeit beweisen muss. Das klappte nicht. Und zwar im doppelten Sinn. Nicht nur das Autochen fiel um, auch die Abriegelung gelang nicht. Denn der Fahrversuch wurde von einem einheimischen Fotografen, der von der Sache Wind bekommen hatte, beobachtet und dokumentiert. Er hatte sich mit einem langen Teleobjektiv auf die Lauer gelegt und schoss aus großer Distanz Fotos von der Malaise, die der stern rasch druckte.

Die Pannen bei A-Klasse und dem Bruder Smart waren nicht nur hausgemacht und wurden vor allem mit Termindruck begründet. Mit einiger Weitsicht, Verantwortungsbewusstsein und vor allem in Kenntnis der Fahrwerksschwächen beider Autos hätte man des Desaster auch locker verhindern können: Nämlich durch den Serieneinbau von ESP, dem elektronischen Stabilitätsprogramm. Der superschlaue Schleuderverhin-derer war damals längst fertig entwickelt und wurde von Mercedes für höherpreisige Modelle bereits angeboten. Doch ESP hätte die A-Klasse teurer in der Herstellung gemacht. Das haben die hauseigenen Rotstifte verhindert. Kurzsichtig, wie solche auf schnelle Kostenvorteile ausgerichteten Zeitgenossen meist sind. Nach dem missratenen Elchtest jedoch, dem daraus entstandenen gigantischen öffentlichen Druck, den tiefen Imagebeulen im nun nicht mehr edlen Blech wie auch nach einem Umsatzloch in dreistelliger Millionenhöhe wurde die Sparpolitik der Knauserkommissare vom Tisch gewischt und ESP schließlich doch eingebaut. Beim Smart indes versuchte es Mercedes zunächst mit einer Billigversion des ESP, dem „Trust“ (engl. Vertrauen). Weil das System jedoch nicht so funktionierte wie erhofft und dem Fahrer eben kein Vertrauen ins (un)sichere Fahrwerk vermittelte, wurde die Produktion des Kleinen auf Geheiß eines Großen gestoppt. Der Befehl dazu kam von Daimler-Konzernchef Jürgen E. Schrempp, damit grundlegend nachgebessert werden konnte. Also noch eine Megablamage.

 

 

1 Kommentar zu "Als der Elchtest Mercedes-Benz aus der Bahn warf"

  1. Bleibt die Frage, wie es „die Franzosen“ bereits während der 60er-Jahre schafften, Kompaktwagen mit laaangen Federwegen und großartigem Fahrwerkskomfort für kleines Geld zu kreieren, ohne ESP und trotzdem nicht umzuwerfen: Renault R4 und R6 und R16, Citroens Enten-Familie bis zum Visa… Mögliche Antwort: Drehstabfedern entlang der Schweller. Hätte „Daimler“ ruhig kopieren dürfen…!

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