McLaren 650S: Dr. Jekyll und Mr. Hyde auf vier Rädern

Supersportwagen sind optisch leicht zu erkennen. Wenn die Karosserie so flach gehalten ist, dass du scheinbar jede Radarkontrolle unterfliegen kannst, ist es wahrscheinlich einer. Der McLaren 650S gehört zu jenem exklusiven Kreis automobiler Raritäten, der nicht nur flunderflach daher kommt, sondern sein immenses Dynamik-Paket jederzeit auszuspielen in der Lage ist.

Drei Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h, 200 km/h nach 8,4 Sekunden und knapp 330 km/h sind eine klare Ansage. Diese Werte zu realisieren, geschieht mit nachdrücklichster Brachialität, die atemlos macht. In echt. Jetzt ist vor allem Disziplin gefordert. So flach ist er nämlich auch wieder nicht, dass sich Radarkontrollen wirklich unterfliegen ließen. Die Gefahr, zu schnell, nein: viiiiel zu schnell zu sein, ist ständig präsent. Wer Punkte sammeln will wie ein Weltmeister, kann hier aus dem Vollen schöpfen. Die Flensburger Tabelle führt allerdings nicht zu ruhmreichen Titeln. Das sollte man bedenken.

Das Cockpit: An Schlichtheit nicht zu überbieten

Das Cockpit: An Schlichtheit nicht zu überbieten

650 PS sagen auch nicht alles, sondern deuten nur an, wie dynamisch dieser Bolide dem Horizont entgegenstürmt, wenn der Fahrer es will. Der 3,8-Liter-V8 mit seinen zwei Turboladern pfeift, faucht, brüllt, kreischt akustisch überaus beeindruckend, während das Drehmoment von 678  Newtonmetern bei 6000/min das 1350-Kilogramm-Leichtgewicht über die superbreiten Hinterräder nach vorne katapultiert. Dabei ist man einem startenden Formel-1-Rennwagen nur eine rechte Sekunde im Sprint von 0 auf 100 km/h unterlegen. Auf der Rennstrecke ist das der Unterschied zwischen dem Ersten und dem Totalversager, auf der öffentlichen Straße ist das ein Augenblick. Außerdem hast du keine Zeit, lange darüber nachzudenken, ob das viel oder wenig ist. Bei 1,6 g befällt dich eher das Gefühl, als werde dein Denkvermögen von der Gravitation eines schwarzen Loches absorbiert. Du willst nur noch das eine: nicht in der Botanik landen. Bei voller Beschleunigung sind immer ein paar Lenkkorrekturen vonnöten, bildet man sich jedenfalls ein, wenn das Heck ein wenig schwänzelt.

Natürlich erfordert dieser Ritt auf der Kanonenkugel stets vollste Konzentration. Aber du musst die Maximal-Power ja nicht ständig abrufen. Im normalen Fahrmodus ist der McLaren geradezu handzahm. Drei wählbare Fahrprogramme lassen die Wahl zwischen Dr. Jekill und Mr. Hyde: Im Modus „Normal“ oder „Sport“ wird die Federung ziemlich hart, die Lenkung direkter und das elektronische Stabilitätsprogramm lässt dem Fahrer leichte Drifts ohne Eingriffe durchgehen. Im Modus „Track“ für die Rennstrecke ist ESP ausgeschaltet, jetzt ist der Fahrer auf sein eigenes Können angewiesen. Vorsicht ist immer geboten: Die Traktion ist auf feuchtem Untergrund mit dem im Modus „Sport“ toleranten ESP, das spät eingreift, äußerst hinterlistig veranlagt. Dreher sind da bei unsensiblem Gasfuß trotz ESP programmiert. Im Track-Modus ohne ESP lassen sich mit dem McLaren ohne viel Aufwand Donut-Kreise auf die Straße brennen, was ich für ziemlich albern halte.

Der Spoiler hilft beim Bremsen

Der Spoiler stellt sich beim Bremsen steil in den Fahrtwind und fördert die Verzögerung

Im Fahrprogramm Normal wird sogar die Schleichfahrt auf dem Boulevard zum Genuss. Das in diesem Modus daunenweich schaltende 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe ist ein wesentlicher Bestandteil der überraschenden Alltagstauglichkeit des McLaren. Verblüffend ist seine Wandlungsfähigkeit zwischen sanftem Charakter und nachgerade paranoider Brutalität. Nirgendwo scheinen teuflich Gut und verdammt Böse sich so nahe zu kommen. Es macht Spaß, im Sportmodus mit den Lenkradpaddels rauf- und runterzuschalten, letzerer Vorgang untermalt von ein paar akustisch sehr attraktiven und bewusst eingesteuerten Fehlzündungen. Besonders in Tunneln bei offenem Fenster zu empfehlen.

Seine Fahrdynamik zeigt der McLaren auch in der negativen Beschleunigung, dem Bremsen. Wer bei Tempi jenseits der 280-er Tachoanzeige in die Eisen tritt, meint, einen Anker ausgeworfen zu haben, der sich irgendwie in einem Schlagloch verfangen hat. Dazu kommt, dass sich der hintere Spoiler blitzartig als Luftbremse aufstellt und spürbar zur Verzögerung beiträgt. Insofern ist das Bremsen fast noch beeindruckender als das Beschleunigen. Dennoch genießt du das Beschleunigen mehr, weil es endlos währt, während der Bremsvorgang nur ein paar Sekunden atemlos macht. Apropos: Der Fahrer tritt hier nicht „in die Eisen“, sondern in eine extrem hitzebeständige Karbon-Keramik-Riesenscheibe mit fast 40 Zentimetern Durchmesser. Die Bremse lässt sich überraschender Weise auch bei harmloser Geschwindigkeit sehr fein dosieren. Und selbst bei schnell hintereinander folgenden brachialen Bremsvorgängen bleibt Fading, also nachlassende Bremswirkung eine Unbekannte.

Wer in diesem Fahrzeug in einer immer enger werdenden Kurve in Panik gerät, würde mit scharfem Bremsen seine Allgemeinsituation nur sehr marginal verbessern. Das ist auch nicht nötig. Der McLaren ist gutmütiger, als er mit seinem Macho-Gehabe erscheint, driftet zunächst leicht auf allen Vieren neutral nach außen, übersteuert dann sanft und lässt sich ganz easy durch Gegenlenken auf der Straße halten. Böse wird er nur, wenn der Fahrer in einer Kurve zu viel Gas gibt.

Das ist übrigens ein verblüffender Wesenszug des McLaren 650S: Der Fahrer ist mit dem Auto sehr schnell per du. Will heißen: Nichts bedarf der Gewöhnung, man fühlt sich sofort wohl, bekommt schnell ein Gefühl für das Fahrverhalten, was das Auto auch für (disziplinierte!!) Supersportwagen-Rookies zuträglich macht.

Supersportwagen sind selten schön im herkömmlichen Sinn. Ihre subtil vorhandene Ästhetik schöpfen sie aus der unter dem Design verborgenen Technik und Power. Zu wissen, dass der McLaren zu weiten Teilen aus Karbon und Aluminium besteht, zu sehen, wie exhibitionistisch er seinen Treibsatz unter einer Glashaube zur Schau stellt, zu spüren, wie die fein orchestrierte Soundkulisse Gänsehaut erzeugt, ergeben in der Summe jene charaktervolle Ausstrahlung, die sich zu einem „schönen“ Gesamtbild verdichtet. Das kompromisslose und schnörkellose Design des McLaren 650S ist zweifellos auf einem Niveau mit den bekannten italienischen Spitzensportlern. So hat auch die Optik sozusagen ein sehr hohes „Drehmoment“. Denn wenn der McLaren durch die Innenstadt grummelt, dreht sich jeder um, der Sinn für gute Sportwagen-Formen hat.

Galt es früher als zwangsläufige Eigenart von automobilen Extremsportleren, dass wir sie uns überstreifen mussten wie einen hautengen Handschuh, dürfen wir uns im McLaren 650S getrost von zwar engen, aber perfekt geformten Sitzen absorbieren lassen und auf ein überraschend sachlich gestaltetes Intrumentarium blicken. Die Schlichtheit dieses Cockpits passt so gar nicht ins (vermeintliche) Bild eines Supersportwagens. Viel Karbon, wenig Knöpfe und Schalter, noch mehr Alcantara und die hochwertige Verarbeitung sind überzeugende Beweise, dass die Präzision der Formel-1-Schmiede von McLaren im englischen Woking auch in diesem Fahrzeug umgesetzt ist. Das Bestreben, den Menschen und kühle Technik ergonomisch miteinander zu verbinden, ist im McLaren definitiv gelungen.

Der Preis von mindestens 255.000 Euro ist in dieser Sphäre der Supersportwagen durchaus angemessen. Mit ein paar Extras berührt man die 300.000er-Marke. Es gibt nicht viele Autos, die dennoch als preiswert gelten dürfen. Der McLaren 650S ist als Gesamtpaket jedenfalls durchaus seinen Preis wert.

Ach ja, fast hätten wir´s ob der Begeisterung vergessen. Getankt werden muss die Flunder auch. Die normiert vermeldeten 11,7 Liter taugen nicht mal als ungefährer Hinweis zur Wirklichkeit. Selbst bei zurückhaltender Fahrweise sind 15 Liter auf 100 Kilometer kaum zu unterbieten. Wir können aber auch jenseits der 20 Liter landen. Aber was ist das schon gegen die etwa 65 Liter auf 100 km eines Formel-1-Rennwagens? Und der ist enger, nicht wesentlich schneller, nur etwas teurer.

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