Im Januar wäre der legendäre Daimler-Benz-Chef Joachim Zahn 100 Jahre alt geworden. Beim Aufräumen meiner Festplatte stieß ich auf einen von mir verfassten Nachruf zu seinem Tode im Jahr 2002. Manchmal höre ich die Interview-Bänder ab, auf denen der Herr Professor Richtungweisendes sagt. Ich bin immer wieder beeindruckt.
Erst sollte es sein Buch werden, dann mein Buch und schließlich unser Buch. Jetzt wird es kein Buch werden. Viele Stunden Tonbandaufzeichnungen von persönlichen Gesprächen bei ihm zu Hause, in seinem mit Akten und Zeitungsausschnitten übersäten Büro in Stuttgart-Untertürkheim, wo noch die Vorstandsmöbel aus den Fünfzigerjahren stehen, oder im Stuttgarter Hotel Schlossgarten, wo er ein Appartement bewohnte. Hunderte von Notizen von oft mehrstündigen Telefongesprächen, in denen der zuletzt 88-Jährige glasklare Gedanken formuliert hat – alles hinfällig. Denn ich musste dem Herrn Professor versprechen, nie je etwas zu schreiben, was er nicht freigegeben hatte. Daraus kann nun nichts mehr werden. Denn ich kann ihn nicht mehr fragen. Unser geplantes Buchprojekt bleibt meine persönliche Erinnerung. Sie ist auch ungedruckt eine sehr wertvolle Erfahrung, für die ich dankbar bin.
Kennen gelernt habe ich Joachim Zahn Mitte der Siebzigerjahre. Er war der berühmte Chef von Daimler-Benz, ich Jungredakteur in Stuttgart, der ihn interviewen durfte. Er beantwortete alle meine Fragen sehr geduldig, aber ziemlich kurz angebunden. Schon damals hatte mich seine Präzision im Ausdruck beeindruckt. Danach haben wir etwa 25 Jahre nicht mehr miteinander geredet. In den letzten vier Jahren dafür umso mehr, als hätten wir 25 Jahre Schweigen nachzuholen gehabt. In den Jahren habe ich zwar das Unternehmen Daimler-Benz journalistisch weiter begleitet, aber ohne persönlichen Kontakt zum Vorstandschef von Daimler-Benz mit Namen Zahn. Danach kamen seine Nachfolger, Prinz, Breitschwerdt, Reuter und schließlich Schrempp.
Nachdem Edzard Reuters Memoiren („Schein und Wirklichkeit“) erschienen waren und ich das Buch besprochen und Edzard Reuter und Werner Niefer als zwei Menschen beschrieben, die sich in einer gewissen Hilflosigkeit ergänzten, rief Zahn an und lud mich nach Stuttgart ein: „Der Artikel ist der einzige, der die Wahrheit über dieses unsägliche Duo beschreibt. Sie haben wirklich Mut bewiesen. Wir müssen miteinander reden. Ich danke Ihnen.“ Natürlich hatte er übertrieben. Aber wer je von Professor Zahn gelobt wurde, der konnte sich was darauf einbilden. Denn wirklich gelobt hat Zahn nur ganz wenige Menschen. Geschätzt wahrscheinlich noch weniger.
Er konnte lostoben, wenn seine Sekretärin irgendeine Unterlage, die auf seinem überfüllten Tisch begraben lag, nicht finden konnte. War aber rührend um sie besorgt, wenn es ihr mal nicht gut ging. Nach meiner Buchbesprechung telefonierten wir immer öfter miteinander, stundenlang. An manchen Tagen dreimal, aber ganz sicher jede Woche einmal ausführlich. Ich besuchte Zahn in seinem schönen Münchner Haus voller Kunstschätze, in seinem Büro und im Hotel. Ich hatte, ich weiß nicht warum, Zahns unverbrüchliches Vertrauen. Er erzählte mir Dinge, die man einem Journalisten eigentlich nicht erzählen sollte. Über seine Familie, seinen Sohn (zwischen Deutschland und Brasilien pendelnd), seinen Schwiegersohn (Ex-Mannesmann-Chef Esser), über seine damalige Modellpolitik bei Mercedes, über sein Geheimnis, die Mercedes-Bilanz so zu gestalten, dass die goldene Umrandung unsichtbar blieb („das hätte nur Begehrlichkeiten geweckt“). Er erzählte von seiner Einstellung als Offizier zu Hitler („ein unsäglicher Verbrecher“), von einem Offizier aus Berlin, der sich noch kurz vor dem Ende zu motivieren verstand und ihm sagte: „Bevor ick mir hängen lasse, globe ick an den Endsieg.“ Nebensächliches, Hochbrisantes, Spannendes, Familiäres, Berufliches. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihm mein Zuhören gut tat. Ich erfuhr alles über seinen Zwist mit den Gründern der Deutschland AG Flick und von Brauchitsch, seine Verehrung für Bankier Abs, seine Taktik beim Verkauf von 14 Prozent der Daimler-Aktien an die Ölscheichs Kuwaits. „Das war nach der Ölkrise 72/73 politisch absoluter Sprengstoff.“ Ab und zu zuckte er – über sich selbst erschreckend – zusammen: „Wenn Sie das je schreiben …“ Ich habe ihn selbstverständlich nie enttäuscht.
Aus unseren Gesprächen wurde besonders in den letzten zwei Jahren eine Art berufliche Freundschaft. Wenn ich Fragen zur weltwirtschaftlichen Lage der Automobilindustrie hatte, er konnte sie beantworten. Wenn ich wissen wollte, wie vor vielen Jahren seine Verhandlungen mit Fiat wegen des Kaufs von Lancia waren, er erzählte mir die ganze Geschichte. Wie es war, als Breschnew von Mercedes ein Auto zu Schrott gefahren hatte und ein Neues wollte, er hatte nichts vergessen. Wenn ich wissen wollte, wie die Rendite bei Mercedes in den Sechzigern war, er wusste die Antwort („Was wir am Nitribitt-SL verdient haben, war unanständig viel.“). Warum er die Auto Union an Volkswagen verkaufte, wie es damals war, als Hanns-Martin Schleyer entführt wurde und er mit Reuter zu Kanzler Helmut Schmidt flog, was er empfunden hat, als die Todesnachricht kam, er konnte stundenlang spannend über alles reden, zog Vergleiche mit heute, analysierte auf faszinierende Art und Weise. Ein Stichwort, eine Frage genügte, und er breitete sein ganzes Wissen dazu aus. Seine tief schürfende Substanz machte mich immer wieder sprachlos. Ich musste Atem holen, wenn er unvermittelt fragte: „Haben Sie das verstanden?“ Oder: „Was meinen Sie, liege ich falsch, denke ich zu eindimensional?“ – Mein Gott, Zahn dachte fünfdimensional, verknüpfte alles dort, wo es zusammengehört, aber niemand auf Anhieb den Zusammenhang gesehen hat.
Als ich ihn einmal fragte, was sein größter Fehler gewesen sei, kam es wie aus der Pistole geschossen: „Dass ich Edzard Reuter geholfen habe, Vorstand zu werden. Ein total unfähiger Mann, der mehr wurde, als er war.“ Er habe ihn nur aus Mitleid eingestellt, sagte mir Zahn. Der damalige Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett und seine Frau seien auf ihn zugekommen und hätten gesagt, der Sohn des großen Ernst Reuter (erster Regierender Bürgermeister im Nachkriegs-Berlin) müsse doch einen guten Arbeitsplatz finden. „Da habe ich mich weich klopfen lassen. Hätte ich gewusst, wen ich da hole, hätte ich dieser Bitte Kletts nie entsprochen.“ Immer wieder kam Zahn in unseren Gesprächen auf Reuter zu sprechen. Nie lobend. Reuters strategische Abkehr vom Autokonzern hin zum Technologiekonzern sei „eine schwachsinnige Todsünde“ gewesen. Mit Jürgen E. Schrempp sei diese falsche Strategie in letzter Minute vor zwölf korrigiert worden. Zahn klagte immer wieder Reuter als Heuchler an: „Keiner hat so sehr auf die Produktion von Rüstungsgütern gesetzt wie der angebliche Pazifist Reuter, der sich als SPD-Mann von seinen Parteigenossen feiern ließ.“ Dass Reuter in seinem Buch nach Ansicht Zahns die „Tatsachen total verdrehte“, hat Zahn nie verwunden.
Unglaublich, was für eine Persönlichkeit ich im Laufe der letzten vier Jahr kennen lernen durfte. Ein Mensch mit so vielen Facetten. Und mit einem so klaren Kopf. Wenn ihm nicht gleich der Name eines Direktors aus vergangener Zeit einfiel, sagte er bedauernd: „Ich werde älter.“ Er wollte damit nicht kokettieren oder einen Scherz machen, er meinte das ernst! Er lebte für Daimler-Benz, und er starb als total engagierter Daimler-Mann. Er wusste alles, was im Unternehmen vor sich ging und vor sich geht. Er war vernetzt wie wenige, hat viele große Manager der Deutschland AG zu Grabe getragen und war immer zutiefst erschüttert wie beim Tode der Bosch-Legende Merkle, „meinem Freund“. Interessant auch sein Hinweis darauf, „welche Automarke im Premiumsegment gerade angesagt ist: Gehen Sie zu Beerdigungen prominenter Wirtschaftskapitäne “. Er beklagte, gerade dort einen Rückgang von Mercedes-Fahrzeugen festgestellt zu haben.
Der Herr Professor war immer unter Volldampf. Vor wenigen Wochen rief er mich an und stauchte mich zusammen: „Warum melden Sie sich nicht?“ Wir hatten nur eine Woche Funkstille gehabt, weil ich auf Reisen war. Meistens war er es, der anrief. Oft fing er nahezu grußlos an mit einer Frage: „Haben Sie das gelesen?“ Oder: „Ich möchte mal Ihre Meinung hören“, um mich gleich abzuwürgen und mir in elegischer Breite seine Meinung zu sagen. Seine beliebteste Redewendung: „Lange Rede, langer Sinn!“ In der Tat, seine Analysen waren nie kurz und machten immer Sinn. Es gab Tage, da telefonierten wir mehrmals miteinander, unter einer Stunde ging es selten ab. Aber er nahm es auch nie übel, wenn ich sagte: „Ich muss jetzt Schluss machen“ oder „ich habe jetzt keine Zeit.“
Obwohl Zahn Probleme mit seinen Augen hatte: Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so viel gelesen hat. Er las die Tagespresse in mehreren Sprachen, wusste, welchen Wirtschaftsaufmacher die „New York Times“ gestern und heute hatte, las englische, amerikanische und deutsche Wirtschaftsmagazine, registrierte jeden Ausschlag auf der Börsenskala, konnte die Produktionszyklen und Modellentwicklungen der letzten vierzig Jahre auswendig aufsagen, wusste, was BMW oder Volkswagen richtig und falsch machten, kannte die genauen Renditen, das KGV der letzten 20 Jahre, die Dollarkurse, Dividende. Immer wieder schickte er mir Berge von Kopien von Briefen und Unterlagen, Zeitungsausschnitte mit Anmerkungen in seiner schwer lesbaren kleinen Handschrift, mit Unterstreichungen und Fragezeichen.
Joachim Zahn war bis zu seinem Tode offizieller Berater des Daimler-Chrysler-Konzerns. Seine Ratschläge fasste er oft schriftlich ab. Zahn war fast jede Woche in seinem Untertürkheimer Büro, hielt Kontakt mit Führungskräften im Unternehmen und der Wirtschaft. Nichts ist ihm entgangen. Nicht alle Unternehmensentscheidungen der letzten Jahre hat er für gut befunden, seine Wertschätzung für Jürgen E. Schrempp und dessen Kurs zurück zum Autokonzern zählte für ihn aber mehr als alles andere. „Mit der Wende zurück zum Auto hat Schrempp das Richtige getan, da gibt es keinen Zweifel“, lobte Zahn, der sich wie ein kleiner Junge darüber freute, wenn er von Duz-Freundin Lydia Schrempp zu ihrem Geburtstag eingeladen wurde.
Wenn ich ihn in seinem Büro in Untertürkheim besuchte (hier saß der Vorstandsvorsitzende in den Sechzigerjahren, bevor das Daimler-Hochhaus gebaut wurde), spürte ich noch immer die Ehrfurcht, die man im Mercedes-Werk beim Klang des Namens Prof. Zahn empfindet. Seine ihm ergebenen Sekretärinnen, Frau Görner und Frau Haug, beide selbst in den Siebzigern, aber von Zahn wie Dreißigjährige auf Trab gehalten, mussten nur an der Werkspforte anrufen und mich samt Kfz-Kennzeichen avisieren.
Da brauchte ich keinen Passierschein mehr auszufüllen, die Schranke ging hoch, als hätte der Herr Professor selbst auf den Knopf gedrückt. Und die Werkschutzleute waren immer besonders freundlich, wenn sie wussten, dass ich „zum Herrn Professor Zahn“ wollte. Künftig muss ich wohl wieder einen Passierschein ausfüllen. – Es war kurz vor seinem Tod, als mir Linde-Chef Wolfgang Reitzle nach einem von mir organisierten Besuch bei Zahn Ende September berichtete, dass sich Zahn den Kopf angestoßen hatte. Trotzdem hielt sich Zahn eisern an den lange vorab vereinbarten Besuchstermin, obwohl er ihn hätte absagen können. Reitzle erzählte mir später, dass auch er beeindruckt war von diesem jungen, alten Mann, den er unbedingt mal kennen lernen wollte. Als ich Zahn ein paar Tage später anrief, sagte seine Sekretärin, dass er nicht erreichbar sei. Zahn hatte ihr verboten, Anrufern von seinem Krankenhausaufenthalt zu erzählen. Typisch Professor Zahn. Nur keine Schwäche zeigen. So war er zeitlebens. Und so ist er gestorben. Ich bin sehr traurig und vermisse ihn, obwohl er auch lästig sein konnte, zum Beispiel wenn er mich gerade beim Einchecken zu einem Flug auf dem Handy erwischte und nicht aufhören wollte zu reden. Ich habe viel von ihm erfahren, aber noch mehr von ihm gelernt. Er war einer der ganz großen Wirtschaftskapitäne und ein Vollblutunternehmer, wie es nur wenige gibt.
Ich hätte gerne sein/unser Buch geschrieben. Jetzt hat es nur zu einem Nachruf gereicht.
Auch heute, 2014, macht mich das Abhören unserer Tonaufzeichnung sehr nachdenklich. Viele Entwicklungen nicht nur bei Daimler hat er vorhergesehen. Den Maybach hielt er für „einen grandiosen Fehler“. So sagte er: „Wie kann man bei Mercedes-Benz behaupten, das beste Auto der Welt zu bauen – und dann eine eigene Marke oben drauf setzen wollen. Die Leute kaufen Rolls-Royce oder vielleicht einen Mercedes Pullman, aber keinen Maybach, weil diese Geschichte niemand kennt.“ Zahn hatte den kleinen Mercedes entwickeln lassen, den Baby-Benz, die heutige C-Klasse. Eigentlich sollte der 190er nur für die USA gebaut werden, um die erwarteten Verbrauchsvorschriften zu erfüllen. Dass das Auto weltweit ein Erfolg wurde, „habe nicht einmal ich geahnt“, räumte der erfahrene Daimler-Lenker mir gegenüber ein. Sicher hat er beim Verkauf der Auto Union (Audi) an Volkswagen auch nicht geahnt, dass diese Marke einmal Mercede-Benz überholen würde. Für den Verkauf hatte er zwei Argumente: „Wir brauchten das Geld für ein Lkw-Werk. Und außerdem passen Premium und Masse nicht unter ein Dach.“ Dass Audi einmal eine Top-Premium-Marke werden würde, hielt Zahn Mitte der Sechziger Jahre für ausgeschlossen.
Kein Zweifel, dass Zahn einer der größten und begabtesten Wirtschaftsführer in Deutschland war. Dass er Daimler-Benz zu einem Weltunternehmen gemacht hat, bleibt unbestritten. Insoweit würde ich auch heute diesen Nachruf so schreiben wie 2002. Und noch immer empfinde ich diese Hochachtung für den Herrn Professor, dessen Buch ich gerne geschrieben hätte. Insoweit sind die vielen Tonaufzeichnungen mein ganz persönliches „Hörbuch“ mit dem Titel „Lange Rede, langer Sinn“.
Wirklich sehr bedauerlich, dass Joachim Zahn keine Erinnerungen veröffentlicht hat. Ich lese momentan Carl Hahns „Meine Jahre mit Volkswagen“, worin Zahn im Zusammenhang mit dem Verkauf der Auto Union an Volkswagen vorkommt. Joachim Zahns Autobiographie wäre sicher nicht weniger interessant und aufschlussreich geworden als die des früheren VW-Chefs.