Von Harald Kaiser
Wer einen Servicemitarbeiter seiner VW-Vertragswerkstatt mal foppen will, dem sei folgendes geraten: Schieben Sie ihm oder ihr einen Zettel rüber, auf dem die Nummer „199 398 500 A“ notiert ist und sagen Sie: „Ich hätte gern dieses Originalteil.“ Sobald die Nummer in den Computer eingetippt und die Entertaste gedrückt wurde, lässt sich sogleich beobachten, wie sich Verblüffung und Ratlosigkeit im Gesicht des VW-Menschen breit macht. Vermutlich wird der Kunde zu hören bekommen: „Äääh, … das Teil haben wir nicht. Was soll das denn sein?“ Antwort: „Die berühmte VW-Currywurst natürlich!“ Denn die hat tatsächlich jene eigene Teilenummer.
Kann aber nicht klappen, denn die Kultwurst gibt es nur in den Werkskantinen des Konzerns. In der des Markenhochhauses in Wolfsburg allerdings seit August 2021 nicht mehr, weil die Kantinenleitung meinte, sich dem politischen Zeitgeist mit vegetarischer und veganer Kost anpassen zu müssen. Also wurde die Wurst aus dem Angebot gestrichen. Daraus entwickelte sich eine hübsche Posse. Altkanzler Gerhard Schröder zum Beispiel, einst Ministerpräsident in Niedersachsen und damit auch Aufsichtsratsmitglied bei Volkswagen, moserte sofort über den Internetkanal LinkedIn genau so deftig wie die Currywurst schmeckt: „Wenn ich noch im Aufsichtsrat von VW säße, hätte es so etwas nicht gegeben.“ Für ihn ist die Wurst nicht nur eine Wurst, sondern der „Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters in der Produktion“. Schröder auch gleich via Internet eine Aktion gegen diese Entscheidung gestartet: „#RettetdieCurrywurst“.
Die Kultwurst ist gefragt wie nie
Nils Potthast, der Leiter der VW-Gastronomie, fühlte sich nun Ende Januar durch das von Schröder ausgelöste Geschwurbel im Netz zur Wurstfrage zu einem Konter animiert. Über die Deutsche Presseagentur teilte er mit: „Es geht nicht gegen die Currywurst, die nach wie vor in allen anderen Kantinen des Werkes angeboten wird“. Es gehe einfach um mehr schmackhafte Alternativen. Die rund 150 Rezepte sollen dort ohne Fleisch auskommen. Nur hin und wieder werde Fisch zum Angebot gehören. Und überdies: Auch ohne den Kantinen-Klassiker sei das Speisenangebot teilweise noch vor Betriebsschluss vergriffen gewesen. Klar auch, dass Potthast folgenden Satz schon allein aus innenpolitischen Gründen sagen musste: Die Alternativen … würden toll angenommen. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Küche stehen ihm zufolge zu 100 Prozent hinter dem Konzept. Und weil es dem Zeitgeist entspricht ist im gleichen Atemzug natürlich auch von Nachhaltigkeit die Rede und davon, dass weniger Fleischverzehr pro Woche auch der Umwelt helfe.
Besagte Kultwurst gilt als das erfolgreichste VW-Originalteil. Allein im Vor-Corona-Jahr 2019 wurden rund sieben Millionen Currywürste aus der Volkswagenfleische-rei angeliefert. Hinzu kamen mehr als 550 Tonnen Ketchup, wie ein Sprecher sagte.
Auch außerhalb der Werksgrenzen machte sie Furore. Etwa auf den Automobil-Messen in Shanghai, Detroit, Frankfurt oder Genf sowie bei Fußballspielen des VfL Wolfsburg gehört die Volkswagen Currywurst zumeist zur Standardversorgung der Gäste. Sogar eigene Porzellanschälchen – sie sind den typischen weißen Pappschalen einer Imbissbude nachempfunden – wurden für diese Volkswagen-Spezialität entwickelt. Gottseidank gibt es sie nur einen Katzensprung vom Markenhochhaus entfernt in der großen Kantine auf der anderen Straßenseite immer noch.
Eine Wurst mit langer Tradition
Die 25 Zentimeter lange Wurst wird im Werk selbst hergestellt. Das Automagazin „auto motor und sport“ berichtete dazu 2012: „Bereits 1950 wurstelten betriebs-eigene Fleischer. In der Nachkriegszeit musste sich ein Unternehmen … um die angemessene Versorgung seiner Arbeiter kümmern. Sogar eigene Bauernhöfe unterhielt VW einst. Geblieben ist davon die Fleischerei. … Ob Krakauer, Fleisch-käse, Bouillon- oder Fleischwurst: Vieles von dem, was in den VW-Kantinen auf den Tisch kommt, stammt aus der eigenen Küche.“ Erstmals kam die Currywurst 1973 auf die Kantinenteller. Sie ist eine Eigenkreation, bestehend aus regionalem Schweinefleisch. In ihr sind ausschließlich Schulterstücke ohne Fett, ohne Eisbein und ohne Sehnen verarbeitet. Ruhrpottbarde Herbert Grönemeyer jubelte sie in den 80er-Jahren mit seinem Kulthit „Kommste vonne Schicht, wat schönret gibt et nich’ als wie Currywurst“ sogar in den Schlagerhimmel. Dass der Song ursprüng-lich eine Hommage an die wurstige Leibspeise der Kohlekumpel im Ruhrgebiet war, macht das VW-Exemplar nicht weniger genießbar.
Wie bei Coca Cola mit der Brause-Rezeptur gibt es auch bei VW ein Betriebsge-heimnis: Es betrifft die Gewürzmischung der Sauce, deren Zusammensetzung nur ganz wenige Mitarbeiter kennen. 2019 kam es durch den Wechsel des Saucen-Lieferanten von Kraft zu Develey aus Unterhaching sogar zu einer Art Ketchup-Gate. Die Chili-Schärfe brenne nicht mehr im Rachen, sondern auf der Zunge, monierten seinerzeit einige Gaumenfreunde. Es sei, erläuterte der Konzern damals, „unwahrscheinlich kompliziert“, einen passenden Ketchup zu produzieren, der genauso schmecke wie der vorherige. Inzwischen gibt es offenbar keine Klagen mehr.
Zu einer Art Ersatzteil wird sie schließlich, sobald sie in eine durchsichtige Plastik-hülle mit der Aufschrift „Volkswagen Originalteil“ eingeschweißt worden ist. Blieb sie einst nur Werksangehörigen vorbehalten, wird sie inzwischen auch außerhalb verkauft. Etwa als kürzere Variante mit 17 Zentimetern Länge im Stadion des VfL Wolfsburg oder in einigen Edeka-Märkten im Norden der Republik. Und seit Sommer 2021 bieten die VW-Betriebsrestaurants sogar einen Spezialservice für VW-Mitarbeiter im Homeoffice an: Im Umkreis von 15 Kilometern um das Stammwerk am Mittellandkanal liefert die Kantine nun die legendäre Currywurst sowie weitere Produkte auch nach Hause.
Hoffe doch sehr, dass jetzt noch weitere kulinarische Geschichten über die Maulktaschen beim Daimler, die Rievkoche bei Ford oder die Sushi-Menüs bei Toyota folgen…