1999 im BMW-Vierzylinder: So wurde Reitzle ausgebremst

Ex-BMW-Manager Manager Wolfgang Reitzle hat nach zwei Jahrzehnten ausgeplaudert, warum und wie er zweimal als BMW-Chef verhindert wurde.

Von Harald Kaiser

Das lange Schweigen hat ein Ende. Ein starkes Stück Wirtschaftsgeschichte spielte sich Anfang des Jahres 1999 in München ab, das nur wenige Außenstehende im Detail kannten. Der 5. Februar war ein denkwürdiger Tag bei BMW, der des großen Stühlerückens. Bernd Pischetsrieder, bis dahin BMW-Chef, flog raus und Entwicklungsvorstand Wolfgang Reitzle sollte sein Nachfolger werden. Nach der Enthüllung durch den „stern“, der Pischetsrieders unrühmlichen Abgang und die heftigen Zündaussetzer in der BMW-Führungsebene exklusiv meldete, war die öffentliche Aufmerksamkeit riesig. Tagelang beherrschten die Personalien die Schlagzeilen und die Spekulationen im In- und Ausland. Warum es anders kam als geplant, schildert Reitzle in dem interessanten Podcast „Alte Schule“ auf YouTube* nach mehr als 22 Jahren vornehmer Zurückhaltung. In dem Podcast, der bereits am 9. September 2021 online ging, aber offenbar im Medienbrei weitgehend unauffällig blieb, plaudert Reitzle aufgekratzt aus dem Nähkästchen über die damaligen Vorgänge. Die nachfolgenden O-Töne sind aus dem Podcast übertragen sowie hier und da sprachlich leicht redigiert worden.

Pischetsrieder war schon „draußen“

Nachdem Pischetsrieder am 5. Februar 1999 in einer außerordentlichen Aufsichtsratssitzung abberufen wurde, mussten er und Reitzle den Konferenzraum verlassen, in dem der 20köpfige Aufsichtsrat (AR) über die Nachfolge entscheiden sollte. Ein paar Tage zuvor gab es ein Treffen mit den BMW-Hauptanteilseignern, den Geschwistern Quandt, dem Aufsichtsratsvorsitzenden Eberhard v. Kuenheim und Reitzle. Dabei trug Reitzle vor, was er für den Fall plant, dass er ins Amt des Chefs berufen würde. Vorgesehen waren sehr harte Schnitte im Konzern. Kuenheim signalisierte Reitzle danach, dass er, Reitzle, der Kandidat sei. An jenem 5. Februar folgte Reitzle Pischetsrieder unmittelbar nach dessen Abberufung ins Büro. Reitzle beschreibt die Szene in dem Podcast so: „Pischetsrieder sagte zu mir: ‚Komm‘ nur rein.’ Er hatte bereits eine Zigarre in der Hand, die Füße auf den Schreibtisch gelegt und sagte zu mir ganz trocken: ‚Na, ja, ich bin jetzt raus, aber Du bist noch nicht drin.’“

„Ich krieg’s nicht durch“ sagte von Kuenheim

Reitzle, der an dem Tag schnell mitbekam, dass er bei der anstehenden Wahl nur zehn Aufsichtsräte auf seiner Seite haben würde, erkannte, dass er für den Fall, dass er Chef wird, kaum eine Chance haben würde, die harten Sanierungsmaßnahmen durchziehen zu können, die aus seiner Sicht nötig gewesen wären. So hätte er zum Beispiel das Milliardengrab Rover, damals eine Tochter von BMW, schnell schließen oder verkaufen wollen. Das aber wollte die Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat auf keinen Fall. Als klar war, dass Reitzle nur mit Hilfe der zwei Stimmen von AR-Chef v. Kuenheim BMW-Boss werden kann, stand für ihn fest, dass er den Job ablehnen und gehen wird, denn für harte Einschnitte hätte er im Aufsichtsrat auch von den Arbeitnehmervertretern volle Rückendeckung benötigt, aber wohl kaum bekommen. O-Ton Reitzle: „Am Ende kam Kuenheim völlig verzweifelt zu mir und sagte: ‚Ich krieg’s nicht durch‘, woraufhin ich ihm sagte, dass ich diesmal nicht mehr bleibe, sondern gehen werde. Ich bin dann wieder in die Sitzung gerufen worden und habe erklärt, dass ich hiermit mein Amt als Vorstand der BMW-AG niederlege. Ich habe meine vorbereitete Antrittsrede unbenutzt mitgenommen, bin nach Hause gefahren und habe meiner Frau gesagt, dass ich nicht Vorstandsvorsitzender, sondern nun ganz draußen bin.“ Statt seiner wurde Produktionsvorstand Joachim Milberg auf den BMW-Thron gesetzt — als Verlegenheitslösung.

Von Kuenheim warf Reitzle Vertragsbruch vor

Der Formulierung, dass er nach diesem Affront nun nicht mehr bleiben wolle, kommt im Ablauf der Vorgänge eine besondere Bedeutung zu. Denn Reitzle hatte 1992 das Angebot von Wolfgang Porsche, dem AR-Chef des Sportwagenbauers, auf dem Tisch, Vorstandsvorsitzender von Porsche zu werden. Reitzle: „Ja, ich sollte auch Anteile von den Stammaktien der Familien Porsche/Piëch bekommen. Das muss man sich mal vorstellen, denn die geben eigentlich nichts ab. Jede hätte ein paar Prozent abgegeben, symmetrisch, damit die Balance zwischen den Porsches und den Piëchs erhalten geblieben wäre. Das hat mich schon fasziniert. Und ich Trottel habe diesen Vertrag auf Anraten der Porsche/Piëch-Anwälte an einem Samstag unterschrieben. Und ich Esel habe meinen zwei engsten Freunden davon erzählt, wovon einer dies den Stuttgarter Nachrichten gesteckt hat. Bevor ich meinem AR-Chef Kuenheim am Montag darauf davon unterrichten konnte, dass ich zu Porsche gehen werde, stand das bereits in der Zeitung.

„Fahnenflucht wird bestraft“

Als ich dann montags in Kuenheims Büro gerufen wurde, hat er mir die Zeitung hingeschmissen und gefragt: ‚Stimmt das?‘ Ich sagte ja, ich wollte Ihnen das gerade erzählen. Daraufhin sagte er: ‚Wissen Sie, was Sie gemacht haben? Sie haben Vertragsbruch begangen, Sie haben einen Vertrag mit uns. Ich habe schon mit Hans Graf von der Goltz gesprochen (dem damaligen AR-Chef von BMW), zu dem fahren Sie am Mittwoch nach Bad Homburg und werden dort mit ihm alles weitere besprechen. Sie werden den Vertrag nicht antreten, wir werden Sie verklagen, Sie werden Ihres Lebens nicht mehr froh.’ So haben die mir gedroht. Als ich bei Graf Goltz war, habe ich gesagt: ‚Okay, ich bleibe.‘ Daraufhin hat er mir bestimmt eine Minute ganz fest die Hand gedrückt und versprochen: ‚Dafür werden Sie Vorstandsvorsitzender von BMW.‘ Dass ich es 1993 nicht wurde, sondern Bernd Pischetsrieder, hat v. Kuenheim, ganz preußischer Offizier, so erklärt: ‚Das war Fahnenflucht, die Sie begehen wollten, und Fahnenflucht wird bestraft.‘

Reitzes Abschied aus der Autoindustrie fiel ihm sehr schwer – der Car-Guy leidet noch heute daran

Die haben mir den Porsche-Job, bei dem ich Besitzer von Porsche-Stammaktien hätte werden können, kaputt gemacht, weil ich Esel naiv einen Vertrag im Eifer des Gefechts unterschrieben habe, den ich nicht hätte unterschreiben dürfen, sondern ich hätte zunächst die (Porsche) unterschreiben lassen sollen, mit einer Woche Gültigkeit, um dann meinen BMW-Vertrag zu beenden und schließlich den Vertrag mit Porsche zu unterschreiben. Ich bin verraten worden. Derjenige, der den Stuttgarter Nachrichten gesteckt hat, dass ich zu Porsche wechseln will, ist nicht mehr mein Freund. Aber was ich nie gedacht hätte, dass solch ein Ehrenmann wie Graf von der Goltz, der mir in die Hand versprochen hat, dass ich BMW-Vorstandsvorsitzender werde, sein Wort nicht hält, damit ich eine Lektion erteilt bekomme. Ich hätte dann gehen können, bin aber bei BMW geblieben, mit einem identischen Vertrag wie der von Pischetsrieder, auch mit der selben Bezahlung. Ich war dann nicht nur Entwicklungschef, sondern wurde auch Einkaufs-, Vertriebs- und Marketingchef. Die Aufgabe war schön, aber Pischetsrieder hat gegen meinen Willen dummerweise Rover gekauft, und da haben wir uns zerstritten. Ich habe gesagt, der Kauf kostet uns zehn Milliarden D-Mark.“

Reitzle wurde noch im Frühjahr 1999 Chef der Ford-Tochter Premier Automotive Group (PAG), London, in der die Edelmarken Jaguar, Aston Martin, Volvo, Land Rover, Lincoln, und Mercury geführt wurden. 2002 wechselte er in den Vorstand der Linde AG, und wurde in dem Konzern für technische Gase schließlich 2003 Vorstandsvorsitzender, was er bis 2014 blieb. Reizes Voraussage, dass Rover ein Milliardengrab für BMW würde, erlebte er sozusagen in Nachbarschaft zu BMW, denn Lindes Verwaltung saß damals nicht nur in Wiesbaden, sondern auch in München: Am 7. April 2005 war die ehemals traditionsreiche britische Marke pleite. Fünf Jahre zuvor schon, am 16. März 2000, hatte sich BMW von der Tochter getrennt – für symbolische zehn Pfund ging die Firma an einen Finanzinvestor. Bezahlt hatte BMW 1994 zwei Milliarden Mark, und sechs Jahre lang versucht, Rover mit sehr vielen weiteren Millionen aufzupäppeln. Angeblich türmten sich die Verluste, die BMW deswegen zu verkraften hatte, auf neun Milliarden Mark.

1 Kommentar zu "1999 im BMW-Vierzylinder: So wurde Reitzle ausgebremst"

  1. Hochinteressant, wie sich Journalismus heute abspielt. Ich kannte den podcast, auf dem dieser Artikel – gekennzeichnet, um korrekt zu sein, wohlgemerkt und um meinen Zeilen keine falsche Tonalität zu geben – basiert, von der ersten Minute seiner Veröffentlichung an. Ich war sehr erstaunt über die Offenheit und die subjektive Darstellung seitens Prof. Reitzle. Aber das nur am Rande. Hochinteressant finde ich vielmehr, dass sich Prof. Reitzle einem eher wenige bekannten Medium in dieser Weise anvertraut. Dennoch ist es verwunderlich, dass es so lange gedauert hat, bis dieses Interview „an die Oberfläche“ kam. Ich hätte viel früher damit gerechnet, bei dem Zündstoff, der drin steckt. Mehr sog´ i nedd.

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