Fahrbericht Audi RS e-tron GT: ein Supersportwagen reinsten Wassers

e-tron GT in der neuen Farbe: Tactical Green

Wenn es ein überzeugendes Argument für ein batteriebetriebenes E-Auto gibt, dann ist es zweifellos der Fahrspaß. Auf die Spitze getrieben wird diese Freude am Fahren (sorry BMW) unbestreitbar im neuen Audi e-tron GT, die wir auf einer längeren Probefahrt auskosten durften. Noch immer euphorisiert vom perfekt komponierten (!!) E-Sound of Silence und dem nachgerade unheimlichen Beschleunigungsschub fällt es schwer, die mobile Elektrozukunft in Frage zu stellen. Wenn es da nicht immer noch ein paar Hürden gäbe.

Fangen wir damit an, was beim Audi e-tron GT sofort ins Auge springt: die absolut gelungene Form. In jedem Detail faszinierend, ästhetisch pointiert und zugespitzt: ein Gran Turismo wie aus dem Design-Lehrbuch, ein viertüriger Hochleistungs-Sportwagen für die lange Reise, bei dem man sogleich an eine coronafreie Ausfahrt durch die schwingenden Hügel der Toskana zu denken animiert wird. Da erscheinen die Landstraßen und die Autobahn rund um Hamburg auf unserer Testfahrt eher ernüchternd, aber ohne dem GT auch nur den Hauch seiner Faszination nehmen zu können.

Man muss dieses Auto nicht unbedingt fahren, um es zu genießen.

Der e-tron GT steht da wie Michelangelos David: muskulöser Feinschliff, kraftvolle Ausstrahlung, pure Ästhetik technologischen Vorsprungs. Dieses fettarme Design ohne überflüssige Übertreibungen erscheint in hohem Maße durchtrainiert und athletisch. Und vor allem nachhaltig, was bedeutet, dass der e-tron GT auch in 20 Jahren noch als formal gelungenes Kunstwerk anerkannt werden dürfte. Was die Audi-Design-Mannschaft unter Design-Chef Marc Lichte da auf die Räder gestellt hat, ist ein Klassiker aus der Zukunft. Oder ein Klassiker, aus dem Zukunft gemacht wird. Ergo: Man muss dieses Auto nicht unbedingt fahren, um es zu genießen.

Form vollendet: Gran Turismo als ästhetischer Genuss

Die Grundformen aus dem Handbuch für gutes Design sind langer Radstand, breite Spur und die flache Dachlinie eines Coupés. Die perfekten Proportionen aus 499 Zentimetern Länge, 196 Zentimeter Breite und 141 Zentimeter Höhe vermitteln schon im Stand formale Dynamik. Physikalisch bestätigt ein Cw-Wert von 0,24 ebenfalls auch in Zahlen einen Spitzenwert windschlüpfiger Effizienz.

Recycling-Material mit hochwertigem Wohlfühlen-Feeling

Der Innenraum ist ­– was sollten wir von Audi anderes erwarten – voller selbstverständlicher Ergonomie. Materialien in bester Qualität und Verarbeitung, die beim Berühren jenes haptische Wohlgefühl erzeugen, das irgendwie wohlige Wärme im Kleinhirn erzeugt. Die Rückmeldung der Fingerspitzen vermeldet nur Positives.

Hätte uns früher jemand gesagt, dass der Technologie-Pacemaker Audi Recycling-Stoffe als Sitzbezüge anbieten würde, hätten wir uns fast schon angeekelt abgewandt. Nun sitzen wir selbst auf „recycelten“ Sitzbezügen und sind nun absolut überzeugt, dass Vorurteile obsolet geworden sind. Weil sich aus alten PET-Flaschen oder alten Fischernetzen weiche, haptisch angenehme Stoffe weben lassen, beweist wieder einmal, dass man Vorurteile nicht recyceln sollte. Was denkbar ist, ist auch machbar, hat Sokrates gesagt. Wie wahr das ist, beweist Audi auch in diesem Detail. Der Bodenteppich besteht übrigens serienmäßig aus Rezyklat-Material. Natürlich gibt´s auf Wunsch auch feines Leder. Unser Sitzgefühl vermisst es nicht, denn der recycelte Bezugsstoff fasst sich bestens an und lässt eine lange Lebensdauer erwarten.

Der komponierte Elektro-Sound klingt wie aus einer anderen Sphäre

Das Fahren in diesem E-Mobil ist irgendwie nicht von dieser Welt. Vor allem in der von uns gewählten RS-Version. 598 PS aus den beiden E-Motoren, je einer an der Vorder- und einer an der Hinterachse lassen keinen Zweifel, dass hier ein Supersportwagen die Schallmauer zu durchbrechen droht. Im Overboost werden sogar 646 PS aktiviert und mit einem Drehmoment von 830 Newtonmeter scheint man jede Radarkontrolle unterfliegen zu können. Im Ernst: 3,3 Sekunden auf 100 km/h beeindrucken auf nicht gerade diskrete Art und Weise. Es flasht uns regelrecht weg, als wir zum ersten Mal auf der freien Autobahn das Strompedal durchtreten. Der elektrische Entnahmevorgang aus der vollen Batterie wird als hochvoltiger Blitz im Gehirn wahrgenommen, der die kürzlich entdeckten Gravitationswellen spürbar zu machen scheint. Die zum Horizont drängende Gewalt ist verdammt beeindruckend, das G-Meter im Gehirn springt in den roten Bereich.

e-tron GT Interieur: Ergonomie in Perfektion und mit materieller Wertigkeit

Der in unserem RS-Testwagen serienmäßige e-tron-Sportsound vermittelt einen geradezu außerirdischen Klang. Dabei haben die Sound-Designer offenbar folgerichtig vermieden, einem Verbrenner nachzueifern. So ist es gelungen, aus dem Summen der E-Treibsätze ein Klangbild zu zaubern, das wunderbar zur Kraftentfaltung des RS e-tron GT passt. Lichtjahre entfernt vom immer wieder kolportieren Klang einer anfahrenden Straßenbahn, das E-Skeptiker wie ich früher gerne ins Feld führten, weil wir vom Sound einer brüllenden Verbrennungsmaschine nicht ablassen woll(t)en. Was ich damit sagen will: Der neue Audi e-tron GT setzt auch Skeptiker emotional unter Strom. Das ist keine Frage. Solche Autos werden gebraucht, um die Akzeptanz für E-Mobilität zu erhöhen.

Auch beim e-tron GT fordert der Verbrauch bei schneller Fahrt einen D-Zug-Aufschlag

Wenn Audi angibt, dass der GT eine maximale Reichweite von bis zu 488 Kilometern schafft, ist das leider graue Theorie. Durchaus machbar, aber dann doch nur theoretisch. Wer sich fast 650 PS unterschnallt, will diese auch spüren. Jedenfalls ab und zu. Wir fahren längere Strecken auf freier Autobahn mit Tacho 260, genießen den Sound beim Beschleunigen und rekuperieren, was das Zeug hält: Aber am Ende stellen wir fest, dass wir mit 100 Kilometer „zügigst“ gefahrener Strecke, 200 Kilometer an angezeigter Reichweite verloren haben.

Sitzbezüge aus recycelten PET-Flaschen und Fischernetzen

D-Zug-Zuschlag ist allerdings keine Eigenart bei E-Autos. Erinnern wir uns an das Fahren in ähnlich starken Benzinern, auch da rauscht der gesamte Tankinhalt bei Vollgas schneller durch die Einspritzanlage, als man es wahrhaben möchte. Wir haben vergleichbar starke Verbrenner getestet, die konnte man mit 10 Litern fahren, aber auch mit 25 Litern auf 100 Kilometer. Es gibt da nur den einen Unterschied: An der Benzin-Zapfsäule dauert es gerade mal drei Minuten, bis der Tank wieder volle Reichweite offeriert. Beim Nachtanken von Strom ist ein längerer Aufenthalt vonnöten.

Die Batterie im e-tron GT bietet eine Nettokapazität von 85 kWh (93 kWh brutto) und erlaubt schnelles Gleichstromladen mit maximal 270 kW Leistung. Damit sollen sich in fünf Minuten 100 Kilometer Reichweite nachladen lassen, in 20 Minuten 80 Prozent der Batterie-Kapazität. Mit dem e-tron Charging Service sollen die Kunden an zirka 200.000 Ladepunkten in Europa Wechsel- und Gleichstrom laden können, eine einzige Bezahlkarte genügt dafür.  Das eröffnet zweifellos neue Perspektiven, E-Vorbehalte abzubauen. Wie tief die komplexe Lade-Technologie von Audi durchdacht wurde, wird hier deutlich: Wenn der Fahrer in der Navigation eine Schnelladestation als Ziel einstellt, wird die Batterie schon während der Anfahrt so heruntergekühlt beziehungsweise erwärmt, dass sie sich möglichst schnell laden lässt.

Das Fahrverhalten entspricht dem Gran Turismo-Anspruch

Fahrwerkseitig stellen wir fest, dass der e-tron GT keine Sänfte ist, aber ein ausgewogenes Fahrgefühl bietet, das auch lange Strecken komfortabel zurücklegen lässt. Über Audi drive select lässt sich über vier Modi eine breite Spreizung des Fahrdynamiksystems individuell einstellen. Wir fahren bewusst die sportliche Einstellung und fühlen uns trotzdem komfortabel aufgehoben. Der batterietypisch tiefe Schwerpunkt ermöglicht eine hohe Querbeschleunigung ohne jede spürbare Wankneigung. Optional gibt es eine Allradlenkung, die den Wendekreis deutlich verkleinert und die Agilität befördert.

Die dynamische Formensprache ist aus jeder Perspektive sichtbar                                      Fotos: Audi

Natürlich stehen auch die üblichen Assistenzsysteme zur Verfügung. Der e-tron-Routenplaner errechnet notwendige Ladestopps und führt den Fahrer auf direktem Weg hin. Bei anstehenden Tempolimits, Kurven oder Ortsschildern kann der e-tron GT vorausschauend abbremsen und dabei rekuperieren. Ein in unseren Augen hilfreiches Detail, um eine Fahrt in die Flensburger Punkteränge zu vermeiden.

Die Verwandtschaft mit dem Porsche Taycan ändert nichts am typischen Audi-Charakter

Es ist kein Geheimnis, dass der e-tron GT eng mit dem Porsche Taycan verwandt ist. Klar dass die Konzern-Entwicklungsabteilungen bei einem so teuren Projekt zusammenarbeiten. Ganz klar ist aber festzuhalten, dass der Audi in seinen markentypischen Charakter, in jedem Detail seine Audi-typische Ausprägung erhalten hat. Sicher wird sich dies in den nun folgenden Vergleichstest der Fachzeitschriften bestätigen. Beide Fahrzeuge sind so eigenständig, dass die jeweils markentypische Charakter-DNA nicht verwässert wurde. Der e-tron GT ist ein lupenreiner Audi, der Porsche Taycan eben ein Porsche.

Der jetzt in zwei Versionen auf den Markt gekommene Audi e-tron GT kostet ab 99.800 Euro, die stärkere und umfangreicher ausgestattete RS-Version kostet ab 138.200 Euro.

 

 

 

 

 

Kommentar hinterlassen zu "Fahrbericht Audi RS e-tron GT: ein Supersportwagen reinsten Wassers"

Hinterlasse einen Kommentar

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*