Fahrbericht Tiguan R-Line TDI: Wie Volkswagen seine E-Strategie mit exzellenten Verbrennern unterläuft

Es ist ein Spagat, der (nicht nur) das Volkswagen-Imperium zu zerreißen droht. Einerseits hat sich VW dem Ziel verschrieben, in naher Zukunft nur noch Batterie-Autos zu verkaufen. Nein, verkaufen zu wollen. Andererseits baut VW extrem gute und hoch attraktive Verbrenner, die in Europa knapp 88 Prozent der Kundenentscheidungen noch immer zugunsten eines Verbrenners ausfallen lassen.

Von den in Europa 3,8 Millionen 2023 verkauften Autos des Gesamtkonzerns waren 472.400 Elektrofahrzeuge, womit der Batterie-Anteil 12,5 Prozent ausmacht, aber leicht im Sinken begriffen ist. Kein Wunder, dass sich die Marketingstrategen in der Wolfsburg nur noch stirnrunzelnd der weiteren Entwicklung hingeben. Die E-Euphorie des ehemaligen VW-Chefs Herbert Diess ist längst der nüchternen Erkenntnis gewichen, dass die Kunden selbst entscheiden, wie sie in die Zukunft fahren wollen. Und die meisten entscheiden sich halt immer noch für einen Verbrenner.

Diesel sind begehrt wie eh und je

Die Politik hat sich längst verschämt zurückgezogen, wo sie massiv unterstützen müsste, um das eh nicht mehr erreichbare Ziel, 2030 15 Millionen Batterie-Autos auf bundesdeutschen Straßen fahren zu sehen, wenigstens ansatzweise zu realisieren. Davon kann keine Rede mehr sein. Dazu kommt: Wie das Kaninchen auf die Schlange starren Dieselfahrer auf das für November erwartete Urteil des EU-Gerichtshofs zur Diesel-Zulassung. Ein Urteil gegen die Zulassungskriterien beim Diesel könnte alle Überlegungen hinfällig werden lassen, doch noch einen Diesel zu kaufen und den Terminus Technologieoffenheit zum Wort ohne Inhalt machen. Momentan sind die Kunden verunsichert und greifen also überwiegend zu den High-Tech-Verbrennern, vornehmlich Benziner. Lag der Anteil der E-Autos an den gesamten Pkw-Neuzulassungen in Deutschland im Juli 2023 noch bei 20 Prozent, ist er bis Juli 2024 um auf 12,9 Prozent gesunken. Auch die Diesel bleiben begehrt wie eh und je.

Der neue Tiguan: Moderne Wahrnehmung auch in den Details – Die Designer haben Großartiges geleistet

Die kaum final zu beantwortende Frage, Verbrenner oder Batterie-Auto, ist fast schon überflüssig geworden. Wer zu Hause laden, auf längeren Strecken mit der notwendigen Lade-Planung umgehen kann, der wird elektrisches Fahren großartig finden. Aber dass sich die euphorischen Narrative, Wartung und Reparaturen seien beim E-Auto günstiger, Strom billiger als flüssiger Kraftstoff, in CO2-freie Luft aufgelöst haben, ist hinlänglich bekannt. Trotzdem stört mich die ideologische und apodiktische Hinwendung zum Batteriefahrzeug. Warum überlassen wir es nicht der Gravitation des Marktes, die individuellen Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen. Wenn die Süddeutsche Zeitung jetzt ein Festhalten am Verbrenner-Aus proklamiert, zeigt das nur die betonierte Ideologie der elektrifizierten Zwangsbeglückung. Auch ohne Zwang wird sich die Batterie-Mobilität langfristig durchsetzen. Kein Zweifel: In 100 Jahren fahren alle Autos elektrisch. Warum dieser grüne Zeitdruck gemacht wurde und gemacht wird, erschließt sich mir nicht.

Außerdem gibt es einen Mittelweg der Elektrifizierung: den Plug-in-Hybrid. Der wäre allerdings von einem Verbrenner-Verbot ebenso betroffen. Im Tiguan eHybrid bietet die stärkste Variante eine Systemleistung von 272 PS. Die Batterie ermöglicht eine Reichweite von etwa 120 km. Für den normalen Alltag wird der Plug-in damit praktisch zum Elektroauto. Volle Batterie und voller Tank reichen somit für mehr als 900 km.

Es ist immer noch leichter, eine Tankstelle als eine Ladestation zu finden.

In unserem Test hat der Tiguan R-Line 2.0 TDI SCR 4Motion mit seinen 193 PS weit jenseits mittelmäßiger Zufriedenheit gepunktet und geradezu begeistert. Obwohl wir elektrisches Fahren wunderbar finden, überzeugt uns dieser Diesel im Tiguan mit seinen Allround-Eigenschaften, seiner Genügsamkeit, seiner Sauberkeit, seiner Dynamik und komfortablen Alltagstauglichkeit. Und: Es ist halt immer noch leichter, eine Tankstelle als eine Ladestation zu finden. Angesichts der Ladesäulen-Strompreise ist ein sparsamer Diesel allen Milchmädchen-Rechnungen zum Trotz immer noch im Vorteil.

Der Innenraum: Ergonomisch, ästhetisch und materiell perfekt gelungen                                                                         Fotos: Volkswagen

Fahren im Tiguan TDI mit dem starken 2-Liter-Treibsatz (193 PS) ist jederzeit mit Freude verbunden. Der Vierzylinder ist, wenn man ihn fordert, zwar deutlich zu hören, aber stets mit diesem typischen Diesel-Sound der Zuverlässigkeit. Es ist ein kraftvolles Schnurren, das nicht als Lärmbelästigung wahrgenommen wird, sondern mit souveräner Dynamik einhergeht. Für einen so leistungsstarken Selbstzünder kann dieser Tiguan durchaus auch als leise empfunden werden. Das 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe DSG ist beim Gangwechsel nicht ganz so geschmeidig und soft wie eine Wandler-Automatik, aber es sorgt für die stets effiziente Gangwahl, in die der Fahrer mittels Schaltpaddels jederzeit eingreifen kann.

Haptisch ist der Innenraum ein Genuss

So elegant modern wie das Außen-Design entspricht auch der Innenraum sowohl ergonomischen Pflichten als auch ästhetischen Grundsätzen. Alles ist, wo es hingehört bzw. wo es unsere Erwartungen suchen. Ich muss immer lächeln, wenn ich sehe, wie Autotester die Innenraum-Materialien abklopfen, um dann zu kritisieren, dass an einigen Stellen harte Kunststoffe verbaut sind. Im Tiguan haben wir nicht geklopft, sondern auf die Gesamtwirkung geachtet. Und die ist von hoher Wertigkeit und auch in Details perfekt verarbeitet. Sämtliche Materialien sind von hoher Qualität, formschön und haptisch ein Genuss. Auch ohne geklopft zu haben.

Kein Genuss ist das Lesen der Preisliste

Haptischer Genuss im Innenraum, aber kein Genuss beim Lesen der Preisliste. Keine Frage, dass die zahlreichen Sonderausstattungen die Qualität des Fahrerlebnisses bis in die Oberklasse steigern. Aber vor dieser Steigerung haben die Götter den Preis gesetzt. Ob uns die Sonderfarbe „Persimmon Red Metallic“ 860 Euro wert wäre, mal dahingestellt. Unverzichtbar erscheint dagegen das Infotainment-Paket inklusive dem Navigationssystem „Discover Pro Max“ für 2.555 Euro, das Komfortpaket mit Memory-Funktion für den Parkassistenten für 1.095 Euro, das „IQ.Light mit HD Matrix-Scheinwerfern“ für 495 Euro. Für Nutzer eines Anhängers ist die per Knopfdruck ausklappbare Anhängervorrichtung inklusive Anhängerrangier-Assistenten für 1.200 Euro ein Must-have. Die 16 Sonderausstattungen unseres Testwagens summieren sich ganz schön. Sie machen aus dem Grundpreis von 55.200 Euro die zu überweisende Summe von 69.592 Euro inklusive Mehrwertsteuer.

Dass das Headup-Display nun hochauflösend in die Windschutzscheibe projiziert ist, eine informative Wohltat. Der riesige mittig platzierte 15-Zoll-Screen mit einer neuen Menüstruktur beeindruckt sehr. Dass das Navi ab und zu aus der gewählten Zielführung auszusteigen schien, könnte auch auf einer Fehlbedienung zurückzuführen sein. Insgesamt scheint VW die vielfach kritisierten Software-Probleme ausgemerzt zu haben. Die Spracherkennung beim Eingeben individueller Wünsche hat einwandfrei funktioniert. Genial umgesetzt hat VW den „Fahr-Erlebnisschalter“ in der Mittelkonsole. Auf einem winzigen OLED-Bildschirm in der Mitte des Drehknopfes wird gut sichtbar vermittelt, welche Funktion gerade aktiv ist. Mit dem Drehknopf lassen sich Fahr-Modi, die Lautstärke des Radios oder die Ambiente-Beleuchtung steuern. Beeindruckend auch die Möglichkeit, in engen Park-Situationen, das Fahrzeug mit dem smart-Phone auszuparken.

Der Tiguan hat einen sehr hohen Reifegrad erreicht

Fazit: Der aktuelle Tiguan der dritten Generation hat einen Reifegrad erreicht, der absolutes Oberklasse-Niveau repräsentiert. Zugespitzt  gesehen hat er mit der ersten Generation nur noch den Namen gemeinsam. Auch bei Automobilen ist es wie bei anderen technischen Geräten so, dass schon beim Kauf klar ist, technologisch bald ein altes Fahrzeug zu besitzen. Auch der neue Tiguan wird von einem Nachfolger in vielen Details überholt werden. Aber für den Moment ist dieser Tiguan in der Top-Liga angekommen, die für die Käufer keine Zweifel erwarten lässt, einen Fehlkauf gemacht zu habe. Auch wenn das Preis-Niveau sehr herausfordernd ist: Der aktuelle Tiguan ist seinen Preis wert und damit preiswert. Die angebotenen Motor-Varianten lassen viel Spielraum für unterschiedliche Kundenansprüche. Für uns ist der 193-PS-Diesel die optimale Variante. Mit Verbräuchen zwischen 7,5 und 8,2 Liter auf 100 km (plus ca 0,1 Liter AdBlue auf 100 km aus dem 12-Liter-Tank) und Reichweiten über 900 km ist die Frage ob E-Auto oder Verbrenner beantwortet.

Zumal weil es immer noch mehr Tankstellen als Ladestationen gibt.

 

 

 

 

 

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