Wenn es nach den Medien geht, brauchen wir in Deutschland keine Strafgerichte

Auch wenn immer wieder die Floskel von der Unschuldsvermutung nachgeschoben wird, reicht es für die meisten Journalisten aus, wenn eine Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat, um einen Delinquenten schuldig zu sprechen. Ob Diesel-Betrugsverdacht bei Daimler oder Anklageerhebung gegen Martin Winterkorn: Für die meisten Medien gelten sie als schuldig.

Erinnern wir uns nur an die Anklage gegen den Ex-Porsche-Chef Wendelin Wiedeking. Vor zehn Jahren ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Untreue und Marktmanipulation. Das Stuttgarter Landgericht wollte die Klage zunächst nicht zulassen, der Fall wurde aber vom Oberlandesgericht dann doch an eine Wirtschaftsstrafkammer verwiesen. Die Staatsanwaltschaft forderte zweieinhalb Jahre Gefängnis, das Gericht sprach Wiedeking aber mit Glanz und Gloria frei. „An den Vorwürfen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft ist nichts dran, nichts – weder vorne, noch hinten, noch in der Mitte“, urteilt der Vorsitzende Richter Frank Maurer am Stuttgarter Landgericht. Dennoch begehrte die Staatsanwaltschaft zur Gesichtswahrung mit einer Revision gegen das Urteil auf, zog sie aber wieder zurück. Auch damals hatten viele Medien den Ex-Porsche-Chef in zahlreichen Artikeln quasi schuldig gesprochen.

Die Anklageschrift gegen Martin Winterkorn u.a. hat 692 Seiten

Der Fall Winterkorn ist damit nicht vergleichbar, aber eine Anklage ist noch keine Verurteilung. Die erhobene Klage gegen Winterkorn wird nun vom Gericht geprüft, ob die Vorwürfe und Ermittlungen belastbar sind und zu einer Verurteilung ausreichen. „Dass die Klage zugelassen wird, daran kann kein Zweifel bestehen“, sagt uns ein Fachanwalt für Wirtschaftsstrafrecht. „Der Umfang und Aufwand der Ermittlungen lässt nur theoretisch eine Nichtzulassung zum Hauptverfahren zu. Der betriebene Ermittlungsaufwand war immens. Die Anklageschrift umfasst 692 Seiten, die sich auf 75.000 Seiten Ermittlungsakten stützen. Dies sang- und klanglos zu den Akten zu legen, kann sich kein Gericht erlauben. Ganz besonders nicht das Landgericht in Braunschweig, dem am Stammtisch gerne zu viel Nähe zu VW nachgesagt wird.“ Die zuständige 6. Große Wirtschaftsstrafkammer wird Monate damit beschäftigt sein, die Akten zu sichten und zu analysieren. Es wird nicht damit gerechnet, dass ein Prozess vor dem Jahr 2020 stattfindet.

Apropos Akteneinsicht: Der Verteidiger Winterkorns beklagte bereits, dass die Staatsanwaltschaft es mit der verpflichtenden Akteneinsicht nicht ernst nehme. So habe die Verteidigung erst am 5. April DVDs mit 300 Ordnern Ermittlungsmaterial bekommen, „die der Verteidigung bislang unbekannt waren“. Die Verteidigung habe vor Anklageerhebung eine schriftliche Stellungnahme dazu abgeben wollen, sei aber mit diesem Wunsch ignoriert worden. Ob damit das vorgeschriebene Recht auf Gehör verletzt worden ist, wird die Verteidigung sicher gerichtlich überprüfen lassen.

Die Medien haben ihr Urteil gefällt

Die Verteidigungsstrategie des Volkswagenkonzerns, der Betrug sei von wenigen Motoren-Entwicklern ohne Kenntnis Winterkorns initiiert worden, „ist spätestens jetzt nicht mehr zu halten“, urteilt Spiegel online final, obwohl noch nicht mal das Hauptverfahren eröffnet worden ist. Noch einmal: Auch wenn viele Indizien und Zeugenaussagen Winterkorn belasten, ist ein Urteil noch nicht gesprochen.

Außer vom Spiegel.

Dass die Staatsanwaltschaft mutmaßt, „Wiko“ und andere Manager hätten das alles angezettelt, um durch Mehrverkäufe ihre Boni zu erhöhen, ist bloße Vermutung, man könnte auch sagen: Bauchgefühl der Staatsanwaltschaft. Es passt halt ins Vorurteil: Wer sich Koi-Karpfen vom Arbeitgeber finanzieren lässt, manipuliert auch die Boni. Dass Winterkorn die Kois nie gewollt, geschweige denn bestellt hat, geht im Strudel der Vorurteile unter.

Das wohl wichtigste Indiz gegen Winterkorn ist offensichtlich eine Notiz an ihn vom 25.April 2014, in der er auf die Diesel-Risiken hingewiesen worden sein soll. Diese Notiz sei Winterkorn in die Wochenend-Post gelegt worden. Ob Wiko sie nachweisbar gelesen hat, muss nun ein Gericht entscheiden. Die Medien haben das schon entschieden.

 

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